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Georg Gottfried Gervinus an Karl Hegel, Darmstadt, 20. September 1839

Lieber Hegel.

Wir haben im Wirrwarr unseres Hin und Herreisens versäumt Dir nach Venedig oder Wien zu schreiben, und es war mir daher lieb, daß Du mir gleich Deine Ankunft in Berlin angezeigt hast, damit ich wüßte, wann und wohin mich wenden. Vor allem laß Dich nun willkommen heißen auf deutschem Boden, und mache zeitig daß es Dir behaglich wird. Schwer wird es Dir werden, da Du nicht allein in ein Amt, sondern auch zum erstenmal in ein Amt selbst kommst.1 Möchtest du es doch so gut haben wie wir, die wir nur in die Ruhe zurückkehren, die wir gerade auf der Reise vermißten. Es ist nun beschlossen, daß wir nach Heidelberg ziehen, und zwar am 1ten October. Dein nächster Brief also geht dorthin. Und wohin denkst Du daß er getragen wird? In das Schweickart’sche Haus2! Und wenn Du uns besuchst, kannst Du in Dein altes Zimmer! und hast einen Ofen dazu! wie solltest Du da nicht warm sitzen! Du kannst Dir denken, daß ich florin 100 Mietzins zu viel für meine Kräfte gern bezahlte, um die Heimlichkeit dieser Wohnung zu haben, die für mich in vieler Hinsicht so viel Reiz haben mußte. Du und Beseler könnt uns nun ganz in unserer neuen Wirthschaft3 denken. Die Wohnung ist mir um so lieber, als sie unser bester Freund in Heidelberg sein wird. Schlosser ist der Alte (er ist nach Florenz!) – allein ich müßte ihn und seine Frau jetzt doch wie unsere von der häuslichen Seite betrachten und wenn sie meiner Frau sein könnten, und dann wieder meine sein. Boisserees kommen auf den Winter4 hin, es scheint nichts auf die Dauer. Das ist für meine Frau desto mehr werth, und ist mir ein ordentlicher Trost, daß sie gleich erfährt, wo sie ihr Haupt hinlegen soll, denn ich war in der That hierin ganz rathlos. Sollten sie auch nicht bleiben, so bildet sich dann einstweilen etwas.

In Deinem Winter und Dein Amt wirst Du Dich nun freilich fügen müssen; daß dieß nur irgend Dich nicht hindert deine florentina zu Ende zu führen hoffe und wünsche ich schon. Ich wollte Du gäbst Dich daran bald und schnell, und schaffest Dir damit einige Aussicht zur Universität. Lange möchte ich Dich nicht auf der Schule wissen für eine Zeit ist’s nicht allein schön, sondern besonders nützlich. Triffst Du irgend leidliche Schüler und nicht gar zu elende Dociergegenstände, so kannst Du auf 1-2 Jahre hier wohl leicht ebenso viel Freude haben, als ich hatte bei keineswegs überguten Verhältnissen meiner Schule. Und der Schlüssel zu aller Menschenkenntniß und Menschenabhandlung ist und bleibt die Bubenkenntniß.

Ich bin wirklich erstaunt, daß Du die Venetianischen5 Briefe ausgewittert hast, noch ehe ich weiß daß sie gedruckt sind. Und nicht Du allein, sondern auch Andere, nach Deiner Angabe, denn es scheint als ob in dem hämischen Artikel der Allgemeinen Zeitung auf mich gestiefelt wäre? Ich bin oft so böse über Göthes Menschenverachtung und Gleichgültigkeit, aber (sans comparaison6 übrigens) es fehlt mir dann auch oft wieder nicht an der ähnlichen Lust, alle Schriftstellerei einzustellen und bloß mir selbst zu leben und zu lernen. Ich sag dieß nicht in Bezug auf jenen Aufsatz, der nur ein Muthwille war und übrigens auch ein Ausfluß devothen Eindrucks den mir Venedig machte. Wohl aber in Bezug auf das Ganze meiner Autorschaft und meines Lebens. Die Kreise sind uns so eng gesteckt, wo wir persönlich etwas bewirken, und ohnehin sind wir hierzu grade nicht erzogen in Deutschland. Die weitgesteckten Kreise des schriftstellerischen Wirkens aber finden keinen Mittelpunct. Wer will ihn in Schulen suchen? und in Partheien? und wo soll man sonst? und ohne diese, wie lange brauchts, bis sich selbständige ähnlich zusammenfinden, die verstehen, sich anschließen, mitwirken – und bis dann endlich vielleicht ein Verständniß und eine Wirksamkeit nach Einem Ziele erstrebt wird, ändern sich die Zeiten, greifen neue und ganz rohe Tendenzen in die halbreifen bisherigen und zerstören sie vor der Zeitigung. Das ist der Jammer der modernen Zeit, den unsre großen Dichter in ihrer Kunst erkannten, den jeder leider in seinem Fache wieder finden wird.

Ob wir nächsten Sommer nach Berlin kommen, weiß ich noch nicht. Ich möchte so gern erst die Literatur-Geschichte fertig haben. Um so mehr da ich etwas historisch Publicistisches über Preußen in Deutschland erbeuten wollte, wo mir ein Aufenthalt alsdann doppelt nützlich werden könnte. Davon schweige gegen Jeden, es ist ohnehin noch nicht reif, sonst würde ich Dir früher schon was davon geschrieben, und nicht blos angedeutet haben.

Deiner Mutter sage, Deinem Bruder schreibe die schönsten Grüße. Auch an Beseler seh ich heute noch zu schreiben. Meine Frau grüßt von ganzem Herzen. Hier steht Alles beim Alten.

Dein
Gervinus.