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Georg Gottfried Gervinus an Karl Hegel, Göttingen, 7. November 1837

Lieber Erich.

Ich schied in Göttingen hier von Dir ohne Bewußtsein; unser Zusammensein hatte keinen Schluß durch die unglückliche Veranlassung der zu balden Trennung. Ich hatte deßwegen mit einer Art Sehnsucht auf Briefe von Dir gewartet und war von Herzen froh über Deine Nachrichten. Meine Reise ist abgelaufen wie Du sagst. Ich habe die Gräber aller Meinigen neben einander gesehen und mir ward sehr schwer zu Muthe. Meine liebe Victorie kam den Tag nach mir schon nach Darmstadt, das tröstete mich, wie mich die unangenehmen Geschäfte zerstreuten. In Ihrer Nähe ist mir doch alles wie junges Leben und die Schrecken des Todes wollen mich dann nicht recht fassen.

Ich denke nun ernstlich nächsten Sommer nach Italien zu gehen. Freund Gladbach, der Dich bald auf 4–6 Wochen in Berlin sehen wird, wird sich höchst wahrscheinlich anschließen, vielleicht auch Fräulein Schulz1, was mir für meine Frau sehr lieb wäre. Wir würden im März weggehen und vielleicht schon im September wieder zurück sein. Noch einmal frage ich: willst Du nicht mit? Ich denke mir die ganze Fahrt himmlich und ich würde hoffen ganz neu aufzuleben. Du wolltest ja den Sommer kommen und sprichst auch nach Deinen neuen Aussichten nicht davon, und ich dächte doch das halbe Jahr würde besser in Italien als in Göttingen verlebt. Wenn Du Deine Hofmeisterei annimmst, so läßt sich das vielleicht in die Bedingungen einschließen, daß Du bis dahin vertreten wirst. Machst Du später mit Deinem minorennen Majoratsherrn die italienische Reise noch einmal, desto besser für ihn und Dich. Wenn Du Ja sagst, ich wüßte nicht was mich so sehr freuen könnte. Ein erhöhter geistiger Schwung würde dem, hoffe ich, die körperliche Erholung begleiten und unterstützen. Ich würde in dem Vorgedanken der Reise schon ganz selig sein. Gladbach würde sich sehr wohl in das Trio passen, ich weiß nicht, mit wem ich die schönen Genüsse so ruhig und behaglich theilen könnte als mit euch.

Auch ich freue mich im Rückdenken an unsere Rückkehr hier und ich preise mich glücklich wenn ich ein bischen beigetragen habe, Dich der Geschichte zu gewinnen der geschäftlichen Betrachtungsart. Gewiß, sie hat die Verheißung aller Dinge, wie sollte es auch sein? Weißt Du worin ein großes Geheimniß der Vorzüge dieser Betrachtung steckt? Darin daß einem nichts entschlüpfen kann! Gib mir einen Gegenstand: wenn ich ihn chronologisch seinem ganzen Verlauf nach verfolge, so weiß ich, wenn ich anders Augen habe, Alles und bin Alles anzuschlagen, gegen Alles gerüstet, das Ganze zu summiren, überall fertig und bereit. Aber jede andere Betrachtungsart leidet leicht durch etwas Lückenhaftes. Bei Lessing ist es mir tausendmal aufgefallen. Er streift überall ans rechte, ja er hats, allein man kann mit der historischen Nach-Forschung fast allemal seiner Frucht noch einen gewissen Nachdruck geben, daß er das Gefaßte noch so viel fester nehmen könnte, um es nun mit aller Zuversicht zu besitzen. Forsche Du auf diesem Wege über Pädagogik; der Gedanke an eine humanistische Reform der Philologie hat etwas Großes. Die Zwecke, die Du Dir vorgesetzt, sind die Würdigsten und Schönsten.

Freund Carrière wünschte ich Eine Stelle Deines Briefs2 zeigen zu können. Es thut mir immer leid wenn ich junge Männer mit solcher Vorbestimmung auf die Philosophie ausgehen sehe. Lähmt es nicht Kräfte, so verkehrt es sie. Ich glaube, daß so lange die anschauenden Kräfte im Menschen wach sind und stark, er nicht die Speculation gewaltsam in den Vordergrund rücken soll. So ists mit dem Einzelnen und so mit dem Volk.´Was soll uns jetzt schon Philosophie, da wir noch gesunde Kräfte der Phantasie, der Betrachtung haben? Es wird eine Zeit kommen, wo diese Kräfte reifen und wo die Speculationen erst recht Raum erhalten. Dann erfreuen sie sich der Errungenschaft dessen, was nur ihre Vorgänger erobern konnten und können damit haushalten. Gewiß so lange da noch Leben ist, muß man nicht die Nachfeier des Lebens suchen.

Es freut mich daß Du endlich einen Repräsentanten unsrer plastischen Kunst gefunden hast, der auch Dir Hoffnung auf sie gibt. Ich hatte sie schon durch Lessing, glaube aber gern daß aus München mahlerische Historiker ausgehen können, die viel bedeutender werden. Von diesem Caulbach weiß ich, daß er ein früheres läppisches Bildchen, der Ritter und sein Liebchen3, später verachten lernte, und dieß ist schon viel. Ich möchte wohl das Bild sehen. Unterdessen habe ich in Frankfurt ein Frescobild von Veit gesehen, was mich beinahe wieder an unsere ! Kunst verzagen machen möchte. Diese catholischen Romantiker und Allegoriker sind rein des Teufels.

Gladbach ist jetzt hier bei mir, er grüßt und schreibt unten ein paar Zeilen. – Beselern fand ich nicht mehr hier. – Meine Frau wird Dir das nächstemal schreiben; auch sie wünscht zunächst sehr, daß Du Italien mit uns siehst. – Unsre hiesigen Verhältnisse werden täglich dunkler und ich wollte ich wäre von hier fort. Ich schäme mich dieser neuen Landsleute, denn sich so wie Kinder behandlen zu lassen, das verdient doch auch die Zuchtruthe. Wenn mir jetzt Jemand auf Herbst nächsten Jahres einen Ruf schickte – ich glaub wenns nach Rostock wäre – es könnte mich für die Reise noch hundertmal glücklicher stimmen. –

Menschchen grüßt herzlich. Empfiehl uns Deiner lieben Mutter und dem Manuel. Deinen Freund Xeller sollst Du auch unbekannterweise grüßen.

Von ganzem Herzen
Dein Gervinus