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Georg Gottfried Gervinus an Karl Hegel, Neapel, 15. Juli 1838

Lieber Erich.

Ich hatte schon einen Mahnbrief an Dich fertig, und im Sack, als ich zum Glück noch vorher nach manchen vergeblichen Anfragen nochmals auf der Post anfragte und Deinen Brief2 noch erhielt. Er enttäuschte mich ärgerlich in Bezug auf unsere Reisepläne, von denen ich natürlich immer zuerst rede. Hab ich Dir nicht in meinem vorigen Briefe3 so viel Vernunft gepredigt? wie verwünscht, wenn man dann immer bei seinem ersten Worte bleibt! Du kommst zum erstenmal nach Italien, Du weißt aber nicht, wie viel mehr werth dieß Land hat in Gesellschaft gesehen als allein, in guter Gesellschaft, als in schlechter. Du bedenkst nicht daß ich dieß weiß, weil ich zum 2ten mal da bin; nicht, daß es eine Fügung ist, daß wir hier zusammentreffen können, und daß wir uns daher möglichst beeilen sollten, diese Fügung zu ergreifen. Weder die Schweiz, noch Mailand, noch Deine Verwandten in Nürnberg laufen Dir weg, aber ich. Wenn Du uns die Reise im September4 verdirbst, so kannst Du nur ebensowohl gleich Alles in Norditalien abmachen, denn das Leben in Rom können wir dann lange genug haben. Ich wiederhole aber aus besten Einsichten, Überlegungen und Gründen, Du mußt die Schweiz im nächsten Sommer rückkehrend aus Italien sehen und Deine Verwandten damit zufriedenstellen, daß Du sie eben dann auch wieder siehst. Ich wiederhole dir, daß Du in Mailand nichts zu verlieren hast und in 2 Tagen Alles hinlänglich gründlich sehen kannst; lieber in Genua etwas länger. Ich wiederhole, daß Neapel und die Gegend im September bereist werden muß, und weder früher noch später, weil nur dann die wunderbaren Beleuchtungen sind, die der Gegend ihren Reiz geben, so daß ich z. B. in dieser Zeit hier ganz getäuscht bin in meinen Erwartungen. Dazu kommt, daß grade eben der Vesuv sich etwas zu regen beginnt, und daß alle Geologen auf die nächsten 2 Monate etwas versprechen. Diese Fahrten hier in die Umgegend sind fast das einzige, auf das ich mich freute zu Deiner Gesellschaft; ich sage so, weil sie so sehr das Hauptsächlichste5 in ganz Italien sind, daß alles andre dagegen in Schatten tritt. Aber sie müssen im September und müssen in guter Gesellschaft gesehen sein, in der man sich mitzutheilen geneigt ist. Mein Plan war dann, daß wir im October in Rom und der Gegend zubringen sollten. Rom muß im October gesehen werden, wenn Du noch einen freundlichen Eindruck haben willst, von den Gegenden ganz zu schweigen, die Du im Winter gar nicht mehr sehen kannst, weil es dann immer regnet. Offenbar hast Du meinem letzten Briefe, der so hastig geschrieben war, nichts als Egoismus in meinen Entwürfen abgesehen. Ich betheuere Dir aber daß Du mir danken wirst, wenn Du mir folgst und kommst, denn der Plan ist in dem Interesse eines jeden Reisenden abgefaßt, sonst würde ich selbst ihm ja nicht folgen. Auch mache ich Dir über Mailand und Genua nichts vor! Ich bin auf meiner ersten Reise in Genua 5 Tage, jetzt nicht länger da gewesen, es ist nichts dort als die Stadt und Gegend von außen. Nach Mailand gehe ich dießmal gar nicht, weil es mir zu langweilig ist. Nach all dem hast Du hier mein Ultimatum: bist Du in den ersten Tagen des September nicht hier, so machen wir die Touren hierherum allein; und gehen Ende September nach Rom, d. h. auf die Campagna nach Tivoli, Albano u. s. w. und sind dann November und Dezember in Rom selbst. Im Januar denken wir auf die Abreise nach Bologna und Venedig – wäre es Dein Plan nur bis zum Frühling zu bleiben, so würden wir uns wohl so einrichten, Dich noch einmal nach Florenz zu begleiten und die ganze Rückreise mit Dir zu machen. Bliebst Du länger, so würden wir dann in Rom Abschied nehmen. In jedem Falle wollte ich, Du hättest schon im Voraus das Gefühl eines deutschen Reisenden in Italien, um zu empfinden wie viel ein Freund hier werth ist; und dann, Du hättest dieselbe Freude mich wiederzusehen wie ich Dich, dann würdest Du jede Woche zu beeilen suchen, die uns zusammenführte. Viel mögen die Verhältnisse dort Dich halten, aber es wäre schön, wenn es zu gestalten wäre. Die Schweiz sollte Dich nicht halten: 14 Tage sind entweder zu viel, oder viel zu wenig.

Zur näheren Weisung einstweilen Folgendes: Ich wohne hier Santa Lucia, Nummer 21. in einem Privathause, wohin Dein erster Gang sein darf; Du findest da immer gleich bereite Aufnahme, 1 Zimmer zu 2-3 Carlin täglich. Bin ich nicht mehr da, so kannst Du bei Remy6 oder wohl noch besser bei Fellinger & Co. erfahren, wo ich bin, und wohin Du mir dann gleich nachkommen und mich abholen mußt. Wir reisen dann ganz nach Deinem Bedürfnisse. Einen Rath geb ich Dir: vielleicht gab ich ihn Dir schon: nimm so gut wie keine Empfehlbriefe mit. Wen man kennen lernen will, kann man in Italien auf 1000 Wegen kennen lernen, und die meisten die man kennen lernen muß, kennte man nachher lieber nicht: man wird durch sie in die Convenienz Cirkel gezogen und nichts ist in Italien so peinlich als dieß. – Deine nächste Antwort schreibe mir gleich, unter Adresse von Fellinger & Co, der Brief gelangt so schneller an mich und sicherer. –

Daß mein letzter Brief so ledern war, das thut mir leid. Er war wohl in der Zeit einer Erschöpfung geschrieben, in die man hier sehr leicht kommt; besonders daß er Beselern geärgert hat, ärgert mich wieder. Vielleicht schreibt er mir besser directe Briefe, die dann auch besser lauten werden als sein letzter. Es wäre wohl schön gewesen, wenn Du mit ihm zusammen gekommen wärst: künftig müssen wir doch dergleichen Congresse bilden. Ich habe eigentlich einen dicken Entwurf im Kopf, der hierauf Bezug hat, und den ich begierig bin Dir mitzutheilen. Du wirst ihn zwar in Deiner resignierten Weise gleich wegwerfen, weil Du nach einer mehr norddeutschen Natur nicht rechten Sinn für gemeinsame Action hast (denn auf etwas Gemeinsames kommt es hinaus). Beseler soll hoffe ich gleich anbeißen. Was überhaupt künftig aus mir werden soll? Wäre nur Beseler in Basel geblieben! Ich kann mich jetzt unmöglich entschließen, mich wieder irgendwohin zu isoliren. Ich gehe nicht in die Schweiz, so wenig wie ich nach Breslau gegangen wäre, wenn auch euer Ministerium anders entschieden hätte. Ich weiß jetzt nur drei Plätze, an die ich in Deutschland möchte, nach Göttingen unter den hergestellten Verhältnissen aus Gemeinsinn; nach Berlin aus Egoismus oder Wißbegierde, um diese wichtigste deutsche Stadt kennen zu lernen; nach Heidelberg aus alter Sympathie. Das letzte wird siegen unter den Verhältnissen. Ich werde dort auf dem Lande zu leben suchen und nicht viel Umgang haben. Ich werde schreiben und hoffentlich nun in die äußerliche Lage kommen, wünschen zu müssen, daß ich mich wegen Basel besser bedacht hätte. Daß Dahlmann sich darüber nicht besser bedacht, dauert mich; er hätte gehen müssen; vielleicht wird es ihm am schwersten werden wieder unterzukommen. Immer schreibe mir über deutsche Zustände besonders hierher, wohin keine Nachrichten kommen und keine Zeitungen. Ich höre doch gern das Einzelne und einiges war mir neu.

Huren und Professoren und Musicanten sind stets feil,
sagte der König, und ja, leider es ist wohl auch so.
Nur ist die Waare darnach! So sieben Conservative
gibt man zum Tausche dahin für Einen Halbdemagog!
Und so die Musiker auch! Was Vater und Sohn componiren,
spielt vor den Ständen Herr Leist, aber sie tanzen nur nicht.7

Für Baumstark freut es mich sehr! So ist er doch endlich unter der Haube. – Über die Subscriptionsgelder bin ich fortwährend in böser Laune. Neulich brachte so ein Berliner Großschreier nach Rom die Neuigkeit, daß doch in Deutschland 50000 Thaler für die Professoren eingegangen seien! Was ich weiß beläuft sich nicht auf fünf! Es ist wahr daß ich habe deponiren lassen. Ich biete es sobald ich zurückkehre jedem der 7 an, der damit einen Prozeß gegen den König von Hannover führen will. Demosthenes ist vielleicht nicht der Charakter, den man zum Muster nehmen muß. Aber das weiß ich daß kein Alter von ordentlichem Schrot und Korn Unterstützung angenommen hätte! Lehre mich die Alten nicht kennen. Lessing brandschatzte seinen Freund Nicolai, so oft er in Noth war, allein er hätte dies nicht angenommen, bis ers nothwendig brauchte; am wenigsten so lange Aussicht war, daß Andere es nöthiger brauchen konnten, als Er.

Daß Du die Italiener ließest ist recht. Da Du ein Historiker werden willst, so hätte ich gewünscht, daß Du nichts andächtiger läsest, als Machiavells Geschichte und sonstige Hauptsachen. Das ist der Einzige, der was von Philosophie der Geschichte weiß, und nicht die 4 die Gans in seiner Vorrede critisirt, ohne sie gelesen zu haben. Seine Geschichte ist ein theoretisches Kunstwerk voll System, und muß aus discorsi und principe erläutert werden. Kein Mensch hat nach meinem Urtheil so Geschichte verstanden wie Machiavelli; geschrieben hat sie Thucydides besser aus Tact. Doch ist auch in Thucydides kein Gemüth und keine Begeisterung wie ich finde; aber sein Stoff ist, in sich größer, als die Florentinische Geschichte ist. Gemüth hat kein Südländer; wie aber ein Stoff wie die italienische Geschichte Begeisterung geben soll, sehe ich nicht ab. Italiens Geschichte kann nur Effect machen mit der Culturgeschichte. Item die deutsche. Diese ist ganz exemplarisch ledern als politische Geschichte betrachtet. Florenz ist nichts gegen Athen recte tu8; was ist aber Florenz, wenn Du die Bildungsgeschichte einflichst, gegen Preußen, gegen Sachsen, gegen Baiern, gegen Schwaben, ja ich wage fast zu sagen gegen ganze Länder wie Spanien pp. in der neueren Zeit! Miß mit dem Maaße, das näher liegt. Eine Stadtgeschichte gar treibt man in der neueren9 Welt nicht wieder auf, Venedig etwa zur Seite gestellt. Für Einen Historiker solltest Du beobachtet haben, daß sich in Florenz wie in Rom und Athen die menschlich-staatlichen Entwicklungen rein, vollkommen und ganz lösen und vollenden: eine Eigenschaft des Geistes der Bewohner, die sie in den ersten Rang der beschäftigten Nationen stellt. Kein Staat der neuen Zeit hat sich so einfach menschlich, so typisch entfaltet: das liegt in der Geschichte des Machiavelli. – Der nur unglücklicherweise die Monarchie nicht erlebt hat. Diese Erfahrung würde sein System erst gerundet haben; er hätte dann erst das rechte Meisterwerk geliefert. Von keiner anderen Stadt oder Land läßt sich solch eine reine Geschichte schreiben! Selbst Venedig weicht hier unbedingt. Stelle mirs also nicht so tief. Florenz hat die neuere Civilisation gemacht, es hat Deine Alten gerettet! Doch behältst Du recht. Wie tief habe ich selbst in einer Parallele zwischen Florenz und Athen jenes stellen müssen! Beurtheile, ob ich es zu hoch stelle. Aber als Historiker muß man gerecht messen nach 2 Seiten hin. In Rom wollen wir den Paul Sarpi (Geschichte des tritentinischen Concils) zusammen lesen. Das ist auch ein Werk ohne Gemüth und Begeisterung. Aber ich wollte doch wir hätten 2 so Kerle in Deutschland, ich gäbe gleich 2 Niebuhre drum, und auch wohl 4. Gehört überhaupt in die Geschichte Gemüth und Begeisterung??

Wenn Du an Beseler schreibst, grüße herzlich und sage er soll mir schreiben, besonders wie er Dahlmann findet. Er soll diesem zureden nach Basel, dann würde ich wohl auch hingehen, aber als Freier Unabhängiger. Auch Grimms sollen Lust haben nach Zürich zugehen, wie schön wäre da! Dann kehrte auch vielleicht Beseler zurück dahin, welch Leben könnte dort werden! Es ist doch was eignes um einen republikanischen Boden.

Victorie grüßt. Es geht uns leidlich! Wärst Du jetzt hier um Seebäder mitzunehmen. Sie wären Dir gewiß sehr gut! Prüfe Alles, das Beste behalte; das Beste aber ist Kommen. Einlagen lege doch auf die Post. Grüße Deine Verwandten, Mutter, Onkel perge perge auf herzlichste und sie sollen mirs nicht anrechnen, wenn ich dich 14 Tage früher entführe. Heute fiel mir ein daß ich möglicherweise schon im Dezember reisen würde, wir wären doch dann gar zu kurz beisammen, wenn Du gar erst den October hier wärst und ich in Rom. Schreibe bald, immer gleich. Und so lang Lebewohl. Von Herzen Dein

Gervin.

P. S. Bringe ja keine Bücher mit!

Wenn Du ein recht galanter Mensch sein willst, so schreibst Du an Fräulein Louise Schulze bei Herrn Geheim Rath Feder in Darmstadt und fragst sie, ob sie mit Dir nach Neapel zu uns reisen wolle; wir fänden dieß eine sehr schöne Gelegenheit, daß sie fast Alles in Italien sähe, und auf Neujahr reiste sie dann mit uns zurück. Wie sie ist weißt Du; ich hoffe daß sie Dir nicht gefährlich wird; eher möchtest Du ihr es werden! Bist Du aber ein deutscher Flegel, so laß es bleiben und bleibe es.