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Karl Hegel an Georg Gottfried Gervinus, Berlin, 8. September 1839

Liebster Gervin!

Mich verlangt sehr, Etwas von Dir und Deiner lieben Frau zu hören; deßhalb schreibe ich sogleich nach meiner Ankunft hier, welche gestern erfolgt ist.1

Was einen doch gleich die Entfernung auseinanderbringt! Vor nicht langer Zeit lebten wir zusammen, und jetzt bin ich seit ein Paar Monaten ohne Nachrichten von Euch. Meinen letzten Brief aus Florenz2, worin ich meine nahe Abreise anzeigte, wirst Du erhalten haben. Darauf hast Du auch noch zu antworten. Zwar in sofern ich zum allgemeinen Publikum gehöre, habe ich allerdings Neues von Dir erhalten. Ich meine „Die Venezianischen Briefe“. Schon aus der hämischen Beurtheilung, welche dieselben (der 1te Artikel) in der allgemeinen Zeitung erfahren, war mir gleich klar, daß sie von Dir sein mußten; doch habe ich mich gegen Niemanden darüber geäußert, da Dir vielleicht am Incognito gelegen ist. Heute nun habe ich den zweiten Artikel durchlaufen; mit welchem Interesse, kannst Du Dir denken! Da ich nun selbst in Venedig gewesen bin. Auch auf mich hat Venedig einen ganz einzigen und unvergleichbaren Eindruck gemacht, eben wegen seines entschiedenen Charakters und seine Gelassenheit in Stadt und Kunst. Ich war 14 Tage und hätte mich so bald nicht davon getrennt, ja dort gar eine literarische Arbeit übernommen, hätte mich mein Bruder, mit dem ich dort zusammentraf, nicht mit fortgerissen. Das Venedig hätte mich noch lange an Italien festgehalten, und jetzt bleibt’s mir wie ein Stachel zurück. Nur auf Deine Arbeit zurückzukommen, so hat sie mich außerordentlich erfreut, weil ich von Grund aus damit übereinstimme. Ich erkenne darin wieder Dein edles Bestreben, unsrer Nation anzueignen, was andre Großes geleistet haben, in dem wir dabei in den Grenzen unsrer Nationalität bleiben sollen. Die Analogie des Entwicklungsgangs der neueren deutschen Kunst mit dem unserer Dichtkunst konntest nur Du so richtig treffen und so glücklich durchführen; und schon dadurch wirst Du Dich den Meisten, die Dich nur Etwas kennen, alsbald verrathen. Möchte die Analogie sich nur weiter fortsetzten und uns ein Göthe und Schiller aufblühen in der Kunst! und wollte Gott, daß Deine unermüdlichen Arbeiten für die Größe unsrer Nation in jeder Art, auch einen praktischen Erfolg gönnen, wozu vor Allem nöthig ist, daß sie, dann das Nöthige und Nützliche gesagt wird, es sich zu Herzen nehmen.

Überrascht hat mich wieder Deine Combinationsgabe, womit Du alles, was Du gesehen, beobachtest und gelesen an die rechte Stelle zu bringen verstehst, dahin, wo es gerade die rechte Wirkung thut, und dient Deine Absicht beim Leser zur Überzeugung zu bringen. Das ist Dein besonderes Talent und macht Deine Überredungsgabe aus. Ich bin gespannt, was auch der Dritte Artikel bringen wird, und auch den ersten werde ich mir zu verschaffen suchen.

Ich befinde mich in keiner Hinsicht wohl in Deutschland, und wenn’s auf mich angekommen wäre, ich wäre wie Winkelmann, gleich in Wien wieder auf Italien zurückgekehrt. Freilich ist auch Wien wenig der Ort, um einen Menschen meiner Art zu fesseln. Deutsche Ehrlichkeit und Gutmüthigkeit ist gerade das Einzige, was dort von Deutschen d. h. von den Guten, was wir als solches bezeichnen mögen, übrig ist. An dem Besten, an Ernst und Tiefe fehlt es gänzlich, und der leichtsinnige Lebensgenuß steht dem gewandten Italiänern und seinem Rom doch besser, als dem Deutschen. Ich wäre aus meinem Mißmuth dort nicht herausgekommen, wenn nicht eine höchst überraschende Erscheinung mich herausgerissen hätte. An einem der letzten Abende erblickte ich unter der Menge, die dem tanzenden Volke zusah, mit ihren Eltern – Marien. Was soll ich weiter sagen? ich war entzückt. Das Mädchen ist noch hübscher geworden. Sie ist nicht groß – wie Deine Frau braune dichte Locken hängen an den Wangen herunter, das Auge ist sanft, anziehend und heiter, die Nase gebogen, Italiänisch, der Mund lindt, die Gestalt schlank und nett, ihre Sprache wie Silberglocke, ihr Wesen durchaus unbefangen und kindlich munter; so wenig sentimental, daß ich von Liebe mit ihr nicht zu reden wage. Ich führte sie auf Gallerien, sie hat Bilder vorher nie gesehen, und war entzückt für das wirklich schöne, und das Scheinbare und Glänzende gewann ihr auch nicht den geringsten Beifall ab. Freund, ich habe mir die Flügel abermals verbrannt, soll ich sie mir noch einmal wachsen lassen, und dann wieder den Muth der Fliege haben? Was ist das, daß ich sie zufällig sah, 3 Tage auf meiner Hinreise nach Italien, und daß sie einen Eindruck auf mich machte, der mich in Italien nie verlassen hat, und daß ich sie zufällig jetzt wiedertreffen und 8 Tage sehe auf meiner Heimkehr.

Oder ist das kein Zufall, sondern Weisung des Himmels? Vielleicht lass’ ich aus den Händen, was mir gegeben war; aber ich will das Glück nicht blindlings ergreifen; ich habe Eindruck auf sie gemacht, das weiß ich, aber ich kenne sie zu wenig, noch scheint sie allen Eindrücken offen, vielleicht wird jener bald wieder verwischt durch andre, ich weiß nicht ob ihr Gemüth tief und festhaltend ist, ich habe zu wenig davon erfahren, weil ich sie fast nie allein gesehen habe, und nur kurz kenne. Darum kann ich auch nicht leidenschaftlich und tief ergriffen werden, wie sehr mich ihre Liebeswürdigkeit gefesselt hat. Ich verdanke es weniger meiner Besonnenheit, als der fehlenden Gelegenheit, daß ich mich nicht fester mit ihr verbunden habe. Jetzt das heißt hier in Berlin muß ich es für Glück erachten, noch ungebunden zu sein. Auf dem Schulweg3 kommt man langsam und mühsam zu hinlänglichem Auskommen; hat man dazu Hausstand, ist man für immer dran gebunden. Jetzt bleibt mir die Universität offen, der Weg ist gefährlicher, aber ich kann ihn machen und unternehmen, so lange ich frei bin. Darum lobe ich mir die Freiheit! Es lebe die Freiheit!4

Zwei Schulstellen sind mir hier offen und ich habe die Wahl. Ich werde die wählen, auf der5 ich vorläufig am wenigsten zu thun habe, um für meine Arbeiten6 so viel Zeit als möglich übrig zu behalten. Ich habe auf lange Zeit mitgebracht aus Italien, dazu muß ich mich in Politische Wissenschaften und Stadtgeschichten hineinarbeiten. Dann liegt mir hier vor Allem eine neue Ausgabe von meines Vaters Philosophie der Geschichte auf, welche ganz neu auszuarbeiten ist aus den Heften, da man mit der Arbeit von Gans mit Recht sehr unzufrieden ist. Diese Arbeit wird mir sehr viel Zeit nehmen, da das Buch ganz neu zu schreiben ist.

Vor dem Schulamt graut mir. Wie groß wird der Abstand sein zwischen meinem Leben in Italien und dem, was ich im nächsten Winter führen werde! Jenes wird meine goldene Zeit sein.

Ich bin sehr gespannt, von Dir und der lieben Victorie zu hören, wie es Euch geht, in Deutschland gefällt, wo Ihr Euren Wohnsitz aufzuschlagen gedenkt, oder aufgeschlagen habt; ferner womit Du dich jetzt beschäftigst, und ob der 4te Band der Literaturgeschichte bald vollendet sein wird und ich Aussicht habe, Dich nächstes Ostern7 in Berlin zu sehen.

In Deutschland ist Alles auf dem alten Fleck geblieben. O Du liebes Deutschland! Was mich das Preußische Soldatenwesen hier anwidert! Meine Freunde hier haben mich mit Jubel aufgenommen, ohne sie wäre mir Berlin unerträglich. Meiner Mutter mit einer lieben Cousine bin ich in Dresden schon begegnet, wohin sie mir entgegengekommen. Meinen Bruder habe ich in Wien verlassen. Er geht nach Arnsberg zurück.

Schreibe mir ja recht bald, mein liebster Gervin, und tausend herzliche Grüße

an Deine Victorie
von Hegel