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Karl Hegel an Susanna Maria Tucher, Berlin, 20. Mai 1850

Meine geliebte Susette! Dank für Deinen lieben Brief2, der unserer ungeduldigen Erwartung selbst noch zuvorkam, da er heute morgen schon hier eintraf. Es ist heute der zweite Pfingsttag, meine Geliebte, der, ehe das neue Unglück von Gottliebs Krankheit hereinbrach, zu unserem großen Festtag bestimmt war. Gottes Rathschluß hat nicht mit unseren Wünschen und Plänen übereingestimmt und wir müssen uns in Fassung und Demuth ihm unterwerfen und den Ausgang erwarten. Unter den gegenwärtigen Umständen darf ich kaum hoffen, daß der schönste Tag unseres Lebens, meine Susette, der uns für immer verbindet, ohne Trübsal und Bekümmerniß sein wird. Es mag dies dazu dienen, uns in der richtigen Stimmung der menschlichen Dinge zu erhalten, welche uns an ihre Vergänglichkeit erinnert. Wir werden uns nicht der Freude so rücksichtslos überlassen, als ob es kein Leid und keinen bitteren Schmerz gäbe, und es wird uns dann das Leid, welches niemals ausbleibt im Leben, wenn es eintritt, weniger überraschen. Wenn nur auch der Freude des Herzens über die Erfüllung unsrer Liebe ihr Raum bleibt! Und wenn nur auch die lieben Eltern an dem Tage unsrer Verbindung in so weit erleichtert sein möchten von der Sorge für zwei ihrer Kinder, daß sie gleichfalls der Freude Raum geben könnten über das Glück von zwei anderen ihrer Kinder! Es wäre doch zu traurig, wenn es noch anders käme; ich kann es nicht denken und will es nicht fürchten. Auch sind Deine letzten Nachrichten von Gottlieb besser und geben gute Hoffnung, daß sein Befinden bis zum festgesetzten Tage unsrer Verbindung keine ernstlichen und nahen Besorgnisse mehr erregen wird. In dieser Erwartung und Voraussetzung nehme ich mit innigem Dank gegen Deine lieben Eltern und Dich, meine theuerste Geliebte, den jetzt anberaumten Tag an, ohne jedoch mit Sicherheit darauf zu bauen. Ob auch Friederike mit Manuel kommen solln, könnte unter den gegenwärtigen Umständen fraglich erscheinen. Daß man der lieben Mutter neben der Pflege für zwei kranke Kinder nicht auch noch die Sorge für Gäste aufladen dürfe, leuchtet von selbst ein; auch würden Manuel u. Friederike, wenn sie nur unter dieser Bedingung kommen könnten, mit Bestimmtheit darauf verzichten. Auf der anderen Seite möchte ich doch, da noch andere liebe Hochzeitsgäste aus der Ferne eintreffen, nächst meinem theuren Bruder meine liebste Schwester3 Friederike am wenigsten gern unter ihnen vermissen. Und es trifft sich gerade so, daß augenblicklich mehrere Umstände sich vereinigen, um Friederikchen eine solche Reise, die ihr auch zur körperlichen Erholung nach dem ihr widerfahrenen Leid Noth thut, möglich zu machen. So wünschte ich denn dringend, daß sie nicht aus einer Rücksicht, die sich wirklich vermeiden läßt, darauf verzichtete. Manuel u. Friederike werden also keine Einladung der lieben Eltern, in ihrem Hause zu wohnen, annehmen u. wenn sie nicht anderswo ein Unterkommen finden, wo ein solches leicht u. ohne Zwang zu gewähren ist, gern im Gasthofe bleiben. Ich bin versichert, daß Niemand übel deuten oder empfinden wird, was so sehr in der Natur der Umstände liegt, ja durch sie geradezu geboten ist. Doch hierüber so wie über Anderes können wir zuvor noch mündlich weiter verhandeln; denn ich gedenke drei Tage vor unserem Hochzeitstage in Nürnberg anzukommen, nämlich am Freitag Abend. Ich reise hier am Donnerstag früh gleichzeitig mit Manuel u. Friederike ab u. begleite sie bis Halle, bleibe dort den Nachmittag und in Leipzig über Nacht. Manuel will eine nah befreundete Familie in Gotha besuchen und dann mit gemiethetem Fuhrwerk durch den Thüringer Wald nach Coburg u. Lichtenfels reisen u. Sonntag Abend in Nürnberg eintreffen. So haben wir es heute Nachmittag verabredet. – Morgen feiern wir hier noch Mariechens Geburtstag, an dem sie das zweite Lebensjahr vollendet hat: es ist ein überaus anmuthiges, bewegliches u. liebenswürdiges Kind, für welches die Liebe sich verdoppelt, nachdem ihm das Schwesterchen durch den unerbittlichen Tod entrissen worden. –

Dies ist also mein letzter Brief aus Berlin, meine theuerste Susette, die ich nun bald ganz die meinige zu nennen hoffe. Auch von Dir kann ich wohl keinen Brief mehr erwarten, wenigstens gewiß keine Antwort mehr auf diesen –

Möge Gott Dich u. die Deinigen behüten! Sage Deinen lieben Eltern meinen innigsten Dank für Ihre Liebe und meine herzlichsten Grüße. Grüße auch die beiden lieben Kranken4, welchen meine herzlichste Theilnahme gewidmet ist. Auf Wiedersehen! meine theure Geliebte. Auf ewig

Dein Karl.