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Karl Hegel an Susanna Maria Tucher, Rostock, 13. – 19. Dezember 1849

Meine geliebte Susette! Ich muß meine Zeit zusammennehmen, um noch dies und jenes vor meiner Reise zu beschicken. Wäre ich nur erst bei Dir! Ich gestehe, daß mir vor der Reise selbst etwas graut, da die Kälte wenigstens bis jetzt noch so strenge und das lange Sitzen im Wagen mir so zuwider ist! Indessen gegen die Kälte werde ich mich durch zureichende Bedeckung oder Einhüllung zu schützen suchen und die langen Stunden im Wagen will ich mir durch den Gedanken an Dich und an Deine Liebe verkürzen und versüßen. – In Schwerin muß ich mich eine Nacht aufhalten, weil ich den Abend zu einigen nothwendigen Besuchen gebrauche, und in Berlin einen Tag, um die Meinigen zu begrüßen und gleichzeitig mich nach den Möbeln und sonstigen Dingen für unsere künftige Einrichtung zu erkundigen. Müßte ich mich aber noch einen Tag in Schwerin aufhalten oder würde ich unerwarteter Weise, etwa zwischen Leipzig und Nürnberg, durch Schneefall oder sonst einen Zufall aufgehalten, so könnte ich nicht mehr am 24. Mittags bei Euch eintreffen, wie es meine Absicht ist, sondern erst am folgenden Tage.

In Deinem letzten Brief, mein liebes Susettchen, gabst Du mir einen rührenden Beweis Deiner zärtlichen Liebe durch die Versicherung, daß Du allen meinen Wünschen und Neigungen nachzukommen suchen würdest: ich mußte mir jedoch dabei sagen, daß mich Deine Liebe gar leicht in dieser Beziehung verwöhnen könnte, wenn ich nicht gleichfalls immer darauf bedacht wäre, Dir das Gleiche zu vergelten und meine Neigungen gegen Deine Wünsche zurückzustellen. Eine meiner Freundinnen, die Frau Stannius, sagte mir neulich, ich würde mir manche Eigenheiten abzugewöhnen haben, und obwohl sie mir auf meine weitere Frage, worin denn diese Eigenheiten beständen, nichts Bestimmtes zu sagen wußte, meinte sie doch, daß ich ohne Zweifel bei meinem längeren Alleinleben mir dergleichen angewöhnt haben würde. Hieraus geht hervor, daß Du, liebe Susette, mir auch manche Neigungen, die schon zu Eigenheiten geworden sind, abgewöhnen wirst und nur in denjenigen nachgeben, die den Genuß unseres Zusammenlebens nicht stören, sondern befördern: oder vielmehr diese Abgewöhnung wird ohne Dein absichtliches Zuthun sich schon von selbst in dem Zusammenleben nothwendig machen, und ich werde es immer für einen neuen Gewinn halten, wenn ich mich wieder von einer Gewohnheit, die mir anklebte und die ich selbst vielleicht nicht bemerkte, glücklich befreit habe.

Mein liebes Susettchen! Du schreibst mir in Deinem letzten Brief von einer Aufführung der Mendelsohnschen Compositionen zur Athalie1, welcher Du beiwohntest. Um so lieber bin ich gestern Abend in ein Concert der hiesigen Sing-Akademie gegangen (derselben, welcher Kupsch früher vorstand), wo eben dieselben schönen Compositionen vorgetragen wurden. Die Musik hat mich an einigen Stellen tief ergriffen, besonders in dem Chor: O Sinai! usw.2 wo sie in der Schilderung von der Erscheinung Gottes mit Donner, Blitz und Posaunenton den großartigen Moment in furchtbarer Erhabenheit und majestätischer Gewalt darstellt, ferner in dem anderen Chor: „Ein Herz voll Frieden hat Trost in jedem Augenblick“3, wo sie die zartesten Empfindungen eines in sich befriedigten religiösen Gefühls ausdrückt! Es kam mir dabei wieder in den Sinn, daß die Musik als ein wesentliches Moment des Gottesdienstes in unserer Kirche zu sehr zurückgetreten ist, weil nichts so wie sie dazu geeignet ist, unser Gemüth zu religiösen Empfindungen zu stimmen, es innerlich zu reinigen und zu befreien: selbst der Kirchengesang ist hier zu Lande so vernachläßigt, daß es nicht zu ertragen ist und daß er fast nur das Gegentheil von der Stimmung bei mir hervorbringt, als er bewirken soll. –

Von Manuel habe ich gestern einen Brief erhalten, worin er mir nur Erfreuliches von dem Befinden der lieben Friederike und ihres Neugebornen meldet; dagegen leidet meine liebe Mutter sehr an der Kälte und mit ihrem Bein geht es nur sehr langsam vorwärts zur Besserung: auch hat sich leider herausgestellt, daß das Bein durch die Sehnenverdehnung4 etwas länger geworden ist, als das andere.

Der von Dir schon angekündigte Brief von Hofmann’s ist heute auf einem Umweg über Hamburg bei mir angelangt. Sie schreiben mir sehr erfreut über Euren Besuch und Deine Bekanntschaft, hoffen auch Dich noch einmal mit mir bei sich zu sehen: ich denke, wir wollen das bald wahr machen, liebes Susettchen, und mit einander nach Erlangen fahren. – Gleichzeitig erhielt ich noch einen verspäteten Glückwunsch von einem andern sehr lieben Freunde und dessen liebenswürdiger Frau, Prof. Thöl aus Göttingen. Mit diesen beiden habe ich für mehrere Jahre in innigster und vertrautester Freundschaft verkehrt und bedauere ich nichts mehr, als daß Du sie hier nicht mehr findest, da Thöl seit diesem Herbst uns verlassen und nach Göttingen gezogen ist. Seine Frau ist von hier, ein überaus graziöses und anmuthiges Wesen, besonders wenn sie Clavier spielt, was sie mit solcher Meisterschaft kann, daß ich nie ein schöneres Spiel gehört: wie viel herrliche Stunden hat sie uns damit bereitet! Und mit ihm war ich so befreundet, wie mit keinem Anderen hier. Doch an wie viel schmerzliche Trennungen dieser Art habe ich mich schon gewöhnen müssen, und so nehme ich es auch nicht mehr so schwer damit, weil es mir ist, als ob sie zum Leben gehörten, damit man auch für neue Verbindungen immer empfänglich bleibe.

Dein lieber Brief5, mein theures Susettchen, beweist mir Deine Freude über mein Kommen, die mich zugleich rührt und entzückt und meine Seele Dir entgegen beflügelt, daß ich vor Ungeduld meine Gedanken kaum noch auf die Gegenstände, die mich noch beschäftigen, festhalten kann. Ich wollte schon morgen früh abreisen, finde indeß noch bis morgen Abend zu thun und fahre deshalb lieber die Nacht, worauf ich bis zum andern Morgen zu Schwerin eintreffe, wo ich den Tag über bleibe, damit ich am Sonnabend Vormittag zu Berlin ankomme, wo ich wieder bis zum Sonntag früh bleibe, und dann eile ich Dir in einem Zuge entgegen zum entzückenden Wiedersehen, wo ich Dich zum ersten Mal als meine geliebte und liebende Braut umarme. Meine Gedanken schwindeln und verwirren sich bei der Vergegenwärtigung dieses neuen, nie gekannten Glücks! Wie wohl wird es mir sein, wenn ich mich der reinen Freude dieses Glücks ganz hingeben kann, ohne fortwährend, wie bisher, durch die tägliche Beschäftigung, Arbeit oder Zerstreuung davon abgezogen zu werden. Ich fühle, es ist nur ein halbes unbefriedigendes Leben, wenn ich Dich nicht als Lebensgefährtin an meiner Seite habe, und wünschte am liebsten Dich gleich mit hinwegzunehmen, wenn nicht – alle die nöthigen oder unnöthigen Weitläufigkeiten wären, womit wir uns den kurzen Gang des Lebens erschweren. Aber so muß ich mich noch einmal von Dir trennen und weiß nicht, wohin die naßkalten Winde unsrer gegenwärtigen Politik mein Lebensschiff vors erste verschlagen und wie bald ich wieder einen gesicherten Hafen finden werde, um Dich, meine süße Last und Beute, darin aufnehmen zu können. Doch will ich mich jetzt noch nicht darum kümmern und die kurze Wonne eines Blicks in mein zukünftiges Glück ohne Rückhalt genießen. Lebe wohl bis dahin, mein liebes Herz, meine traute innig Geliebte, meines Lebens Hälfte und Wonne! – Möge Gott Dich auf allen Wegen beschützen! Auf ewig

Dein Karl.

P. S. Grüße Deine theuersten Eltern und lieben Geschwister.