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Maria Helena Susanna Hegel, geb. Tucher, an Karl Hegel, Berlin, 23. Mai 1846

Dein Mahnbrief theurer Sohn ist mir von der Frau Professor Becker erst gestern am Himmelfahrtstag zugeschickt worden und traf einen Gast bei mir an, den Du Dir nicht vermuthest – Gottlieb und Thekla! Sie meldeten uns von Halle aus Sonnabend2 ihre Ankunft und kamen Sontags mit dem Nachmittagszug bei uns an und blieben bis gestern Mittag. – Das war uns allen eine große Überraschung und ein ungehofftes liebes und erquickliches Wiedersehen. Die erste Veranlassung zu dieser Reise gab Mathilde Tholuk, die den Gottlieb zu dem 25 Jahre Jubiläum ihres Mannes3 eingeladen hatte – Er wollte aber nicht ohne sie reisen, da sie durch alles Schwere in letzter Zeit sehr getrübt und herabgestimmt war, und so wagte er denn mit ihr und um ihretwillen diesen Ausflug – der in sofern ein Wagstück ist, da sie bis Ende Juni ihre Entbindung erwartet4 (da sie aber Gottlob sehr gesund ist, wollen wir hoffen daß sie wohlbehalten wieder nach Hause kommt –) Sie bleiben auf dem Rückweg noch eine Nacht in Halle und einen Tag und Nacht in Leipzig – Hier waren wir ruhig und gemüthlich beisammen – Thekla verzichtete auf alles weitere in Berlin und wollte nur bei und mit uns seyn. Da haben wir denn viel von unserer lieben Luise gesprochen: wie sie eine große Nervenschwäche: Zittern der Hände beim arbeiten an der immer thätigen treuen Luise bemerkten – und daß sie wohl auch in letzter Zeit vor ihrer Entbindung sagte „ich glaube ich bekomme ein Nervenfieber“ – Der Luftmangel beim Stillen war doch auch schon ein krankhaftes Simtom.5 Die Ärzte waren der Überzeugung daß sie nicht reine Aderläße wagen durften, bei dieser Art Nervenschlag – Lina soll sich trefflich benehmen und eine Kraft bewähren, die sie ihr nicht zugetraut hätten; mit welcher Liebe sie für den Vater und die Geschwister sorgt – Das Kleinste hat die Wiß mit mütterlicher Liebe übernommen und nun sind sie nach Henfenfeld und habe zu Linas Trost Susett mitgenommen.6 – Ihr Verlust wird von Allen tief und schmerzlich empfunden. Sie haben angstvolle Tage durchlebt und die Bitterkeit des Todes mit ihr getheilt.

Da war unser Gottlieb durch seinen kräftigen Glauben allen ein kräftiger Beistand und Tröster. –

Es ist mir viel werth, daß ich mich über dieß alles mit diesen Beiden aussprechen konnte –

Wie sehr haben wir Dich in diesen Tagen zu uns gewünscht. Thekla beklagt sich darüber daß sie Dich noch gar nicht kennt – Beide grüßen Dich herzlich.

Die lieben Eltern haben Gottlieb auch mit so viel Gemüthlichkeit und Herzlichkeit aufgenommen, daß Beiden recht warm und befreundet bei ihnen geworden ist. Einen Mittag waren sie bei den Eltern – den 2ten Dinstag7, an Gottliebs Geburtstag8, waren Manuels9 Mittags bei mir, und die Eltern kamen zum Kafee in die Laube bei Sonnenschein und Nachtigallen Gesang und Mitwoch10 waren wir bei Manuel, wo die Eltern wiederum zum Kafee kamen. Der Vater hat Gottlieb sehr liebgewonnen – Dieser Bruder ist aber auch mein Stolz und die Freude meines Herzens – Es war mir dieses Wiedersehen das Erfreulichste was mir begegnen konnte – und so überraschend! Wäre so viel Zeit und noch eine Möglichkeit gewesen Dich dazu einzuladen und hättest Du mir nicht dabei gefehlt, so wäre es noch schöner gewesen. –

Wie wohl wird es Dir seyn, wenn dieß letzte saure Stück Arbeit noch gar bewältiget ist – Gönne Dir nur auch dazwischen einen Ausflug nach Warnemünde und nimm zur Erfrischung oft ein Seebad. Darum bitte ich Dich – Deine Mutter. – Professor Franz braucht jetzt die Wasserchur und ist davon neu belebt. Er schläft in der Anstalt – wird morgens in ein nasses Laken gewickelt in wollen Decken, und aus diesem Schwitzbad in eine Wanne kalt Wasser – drauf angekleidet, ein paar Gläser Wasser zum Frühstück und so kommt er jubelirend morgens nach Hause und versichert er sei wie neu geboren – Er ist Professor ordinarius geworden mit 500 Thl. Talern Zulage, was ihn sehr beglückt und er wohl brauchen kann –

Ich habe mich in dieser Zeit still gehalten und habe die unruhigeren Tage bei Gottliebs Anwesenheit auch ohne Nachwehen bestanden – Aber soviel weiß ich nun, daß ich um mich wohl zu erhalten, geistiger und leiblicher Ruhe bedarf – und danke Gott, daß ich deß so gewiß bin – und freue mich dieses Ruhestands als eines mir geschenkten Glücks –

In 3–4 Wochen erwarten wir Friederikens Entbindung, da erwartet mich, wenn uns Gott ein gesundes Kindchen schenkt ein neues Glück. Sie sieht prächtig wohl aus, und ist so leicht beweglich da dürfen wir ja hoffen, daß alles gut gehen wird – Gott geb es!

Unsere neue Kirche wurde vergangenen Sontag11 eingeweiht – und unser Superintendent Büchsel, den wir mit Gottliebs12 auch am Himmelfahrtstag gehört haben, hat uns sehr erbaut. – Sein Vortrag ist klar einfach, rein evangelisch glaubenskräftig, durch und durch warm und wahr und anziehend und herzgewinnend – Er hat eine edle Persönlichkeit ein kräftiges Organ und wird mit seiner Entschiedenheit, die mit so viel Innigkeit und Milde und Klarheit gepart ist – keinen abschrecken – ich hoffe vielmehr er wird Vielen zum Segen werden. Goßner prediget nicht weil er Brunnen trinkt und sich doch sehr schonen muß, um nicht wieder rückfällig zu werden. Sein Nachfolger Köppen kommt nun doch bis Pfingsten. Gottlieb hat Goßner auch besucht und sich an seiner Geistesfrische erfreut.

Vom Krankenhaus höre ich nun nichts mehr – und denke mit wundem Herzen daran – Doch wird auch ohne mich die Wahrheit ans Licht kommen – oder man wird aus Erfahrung klüger werden, da ja doch alle das Beste wollen.

Gestern wurde ich durch einen Besuch der Schlesinger und Pathe Marie im Schreiben unterbrochen –

Partheys gehen nach der Hochzeit im Juli, die in Dresden ist, für den übrigen Sommer nach Heidelberg das junge Ehepaar zu Bunsen nach London

Der Familie Senf bin ich einen Gegenbesuch schuldig. Sie waren vor Deiner Abreise und nachher wieder einmal bei mir und haben mich nicht getroffen doch sonst haben wir uns begegnet und da erfreut mich jedesmahl die Natürlichkeit und herzliche Unbefangenheit der beiden Mädchen. Sie sprechen aus was Andere verschweigen, wie leid es ihnen ist daß sie Dich so wenig gesehen – An dem Tod der Luise nehmen sie auch so herzlich theil – möchten so gern Friederike kennen lernen – Ich will sie in diesen Tagen zum Kafee zusammen bitten – Deine Weste und 2 Chemisette Cravatte und 1 paar wollene Socken fand ich erst nach Kierulfs Abreise, noch in Deiner Schublade vor – und will sie Dir nach die L.13 schicken – Leb wohl theurer Herzens Sohn! Meine Gedanken sind täglich bei Dir, so daß ich eigentlich mit Dir fortlebe – und im Geiste immer bei Dir bin. Leb wohl. Gott sey mit Dir!

Schreibe bald wieder wie es Dir geht. Hast Du einen Contract mit dem Verleger abgeschlossen?14