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Kuno Fischer an Karl Hegel, Heidelberg, 1. Januar 1901

Hochverehrtester Herr Geheimer Rath

Meine herzlichsten und bewegtesten Glückwünsche zum Wechsel des Jahres und zum neuen Jahrhundert. Nur wenigen Männern, ich glaube keinem, ist es vergönnt gewesen, das 19te Jahrhundert in einem solchen Umfange, auf einer solchen Höhe des Lebens, mit einer solchen geschichtskundigen Einsicht zu erleben, wie Ihnen. Möge Gott Sie erhalten und noch ein schönes Stück des Lebens des 20ten Jahrhunderts erleben lassen, das dem 19ten sehr unähnlich sein wird.

Ihr schönes und hochinteressantes Werk „Leben und Erinnerungen“1 habe ich mit der lebhaftesten Freude empfangen und gleich in den ersten Mußestunden, welche die Weihnachtsferien gebracht haben, vom ersten bis zum letsten Buchstaben mit gleicher Spannung und Aufmerksamkeit gelesen. Ich habe Ihnen überall folgen können, hier in Heidelberg, wo ich mit Gervinus und Frau Victorie im angenehmsten und freundschaftlichsten Verkehre gestanden2, in Rom, wo ich in Begleitung des Erbprinzen Philipp von Sachsen den Winter 1865/66 zugebracht habe, erfüllt von den unvergeßlichsten Erinnerungen.

Mehrmals tausend Dank für dieses mir höchst genußreiche Geschenk. Nur das erste Capitel hätte ich mir ausführlicher gewünscht, wahrscheinlich viele mit mir. Das Interesse an Ihrem große Vater ist im Steigen. Als ich die ersten Lieferungen meines Werkes3 herausgab, betrug die Zahl der Abonnenten 3–400, heute beträgt sie über 800. Die Auflage (1800) wird nach Vollendung sehr bald vergriffen sein, und die neue Auflage wird in zwei Bänden erscheinen.

Zu den Schicksalen der großen philosophischen Werke gehören die zeitweisen Verdunkelungen, die kommen müssen, um vertrieben zu werden und größere Aufhellungen zu erreichen.

Mit meinen herzlichsten Empfehlungen

Ihr ganz ergebenster
Kuno Fischer