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Karl Rosenkranz an Karl Hegel, Königsberg in Preußen, 15. Juli 1840

Mein theuerster Herr Doctor,

Sie müssen es sich schon gefallen lassen, von mir mit Briefen bestürmt zu werden. Als Hegel’s Sohn müssen Sie dies Schicksal auf sich nehmen. Unsere letzten Briefe vor einigen Wochen haben sich gekreuzt, ich schrieb daher sogleich wieder, um für das übermachte Geld zu danken, damit keine Confusion entstünde.

Ich sehe jetzt, wie gut es ist, daß Sie sich entschlossen haben, nur die wichtigsten Papiere herzuschicken. Ich brüte in ländlicher Einsamkeit den ganzen Tag über meiner Aufgabe und muß dann nach Bedürfniß, jetzt dies, dann jenes nachsuchen können. In Berlin, wo so viel andere Interessen mich in Beschlag nähmen, wäre so etwas unmöglich. Sie würden oft Ihren Spaß haben, wenn ich wieder eine Combination gemacht habe; z. b. in der Bamberger Zeitung finde ich viele Hoffeierlichkeiten beschrieben; die vorzüglichsten Werke der französischen Bühne sind dort aufgeführt: also hat Hegel hier Gelegenheit gehabt, das classische Theater der Franzosen gründlich kennen zu lernen.

Ich habe eine chronologische Liste seines Lebens von Jahr zu Jahr angelegt, worin ich immer eintrage, wann mir etwas auffällt. Diese Annalistenmethode muß die Grundlage des biographischen Kunstwerks geben.

Wenn Sie + und Hotho in der Vorrede zur Propädeutik2 den Namen Menzel gestrichen haben, so haben Sie dies auch wohl mit dem Namen Hengstenberg gethan. Ich habe nichts dagegen; damals war ich durch das Vorwort zur Evangelischen Kirchenzeitung3 zu empört. Ich er- warte mit Begierde die letzten Bogen der Propädeutik.

Die genealogischen Notizen von Emanuel erfolgen anbei mit Dank zurück. Ich habe sie mir abgeschrieben. Ich vermisse jedoch eine Nachricht über Hegels Schwester darin.

An Herrn GeheimRat Schulze habe ich Sinclairs halben geschrieben und bitte ergebenst, als Nachtrag ihm noch beikommende Zeilen gefälligst einzuhändigen.

Nun aber einige Mittheilungen. Ich begreife nicht, wie die Papiere, die Sie mir übersandt haben, so lange unbenutzt haben liegen können. Durch eine seltene Gunst habe ich mich durch die Propädeutik ohne Ahnung derselben durcharbeiten müssen und sehe daher Alles viel klarer.

In dem Brief von 1800 sagt Hegel ganz bestimmt an Schelling: daß das Ideal seiner Jünglingsjahre in Reflexionsform als ein System habe niederschlagen müssen. – Dies System ist da; es enthält: 1) Logik vom Begriff des Seins bis zum Begriff der Proportion, wie Hegel hier die Lehre von der Methode überschreibt; 2) die Metaphysik, worin das Erkennen, die Objectivität und Subjectivität und in letzterer der theoretische, praktische und absolute Geist abgehandelt werden. 3) die Naturphilosophie. Nach einer Einleitung über den Begriff des Lebens folgt a) das System der Sonne. b) das System der Erde, in welchem eine ganz vollständige speculative Mineralogie enthalten, vornämlich aber der elementarische Proceß mit einer hinreißend schönen Dialektik entwickelt ist, die an Schärfe und Poesie Alles, was ich von Schelling in dieser Hinsicht kenne, weit hinter sich läßt. Man wird in das Weben des Erdgeistes entrückt. Bei dem Übergang zur organischen Natur bricht das Manuskript ab. Es ist aber kein Zweifel, daß die Geistesphilosophie theilweise durchgeführt gewesen sein muß, wenn auch mehr nur in praktischer und religiöser Beziehung, denn unter der Auseinandersetzung, welche die Religion enthält und auf einer merkwürdigen Wendung gegen Fichte schießt steht das Datum 14 September 1800, wo Hegel noch in Frankfurt war.

Nun konnte er wohl in Jena sogleich die Differenz zwischen Fichte und Schelling schreiben; nun konnte er die Thesen aufstellen: Syllogismus est principium idealismi; Idea est synthesis infiniti et finiti; Quadratum (die gebrochene Mitte!) est lex naturae, triangulum mentis; magnes est vectis naturalis, sicuti planetarum ordo pendulum naturale etc. Nun konnte er über die Religion (wobei Michelet ganz Recht hat) tiefere Gedanken äußern; nun konnte er die Abhandlung über das Naturrecht schreiben (wovon ich einen halben Bogen Grundlagen auch gefunden habe zu Sämtliche Werke I. 416 ff.4) – er hatte in einsamen Schlachten sich schon seine Welt erobert.

Ganz unschätzbar ist das Tagebuch aus Jena von 1802–1806. Die Jahreszahlen unterscheide ich nach den literarischen Novitäten, die sich Hegel anmerkt; es sind diese Notizen oft gleichsam seine Xenien5; das Brouillon6 zur Vorrede der Phänomenologie, auch die berühmte Stelle von den Kühen im Nachtschwarz des Absoluten kommt darin vor, sowie sehr entscheidende Äußerungen über Schelling.

Hegel hat nie das Gefühl einer eigentlichen Schülerschaft desselben gehabt auch seine Terminologie ist von Anfang an charakteristisch z. b. Dialektik, Sichselbstgleichheit, Bestimmung, Nichtsein undsofort gebraucht er schon 1800 wie 1830.

Auch die Reise nach der Jungfrau von Bern aus ist sehr wichtig wegen der Physikotheologie, auf welche Hegel dabei wieder zurückkommt, so daß ich gar nicht begreife, weshalb man nicht längst schon davon eine Mittheilung gemacht hat; freilich habe ich jetzt gut reden, nachdem ich Alles im Zusammenhang erkenne, denn in den parallelen Briefen an Schelling 1795/96 kommt der Gedanke vor: Die Ethikotheologie rückwärts 7 die Physikotheologie zu wenden.

Übrigens werde ich, wie Sie auch wohl aus meiner Geschichte der Kant’schen Philosophie ersehen haben8, das Verhältniß zu Schelling zart und fein, der Wahrheit unbeschadet behandeln.

Ich konnte nicht umhin, Ihnen diese Mittheilungen zu machen. Für die Vermischten Schriften könnte ich vielleicht zum Ersatz für die Briefe außer Dissertationen eine interessante Fragmentensammlung anstellen.

Mit herzlichen Empfehlungen an Ihre verehrte Mutter und meinen lieben Hotho
Ihr Karl Rosenkranz

P. S. Wissen Sie nicht oder GeheimRath Schulze, wann und wie Hegel zuerst persönlich (durch Schiller?) mit Göthe zusammtroffen ist?

Noch eins: in den Notizen Emanuels fehlt die Angabe, wann Hegel Professor in Jena geworden, es ist nur vom Gehalt die Rede.