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Heinrich Wilhelm Stieglitz an Karl Hegel, Venedig, 29. März 1840

Nicht auf einen zufälligen Wanderer will ich warten, um Ihnen, lieber Hegel, für die Freude zu danken, die Ihre Zeilen2 mir bereitet. Ich hatte mir eigentlich gar keine Reflexionen über Ihr andauerndes Schweigen erlaubt, aber das vorwaltende Gefühl darüber war wohl ein schmerzlich verhaltenes „Et Tu, Brute?“3 – Das seh‘ ich auch an einem Blättchen, das ich unter meinen Papieren finde, und das ich nachher zurückhielt, daß ich in Ihnen mich nicht könne geirrt haben; nun es ganz und gar seine Gültigkeit verloren, schließ‘ ich es der Curiosität wegen bei.4 Auch den Brief an Dr. Jacobson, den er damals mitnehmen sollte, ist nicht abgegangen, was mir jezt gar lieb ist; er war etwas gereizt und ist eben verbrannt; dagegen schrieb ich heute einen anderen an Jacobson, hervorgeschroffen aus dem Jahre Ihrer Mittheilungen. Sie sehn übrigens, lieber Getreuer, wie ich bei aller gewonnenen Resignation und Selbstbekämpfung, trotz der geistigen Erhebung über mein Schicksal, immer noch nicht ganz frei bin von meiner bisweilen sich bemerklich machenden Gereiztheit des Gefühls, die namentlich im Andenken an Berlin – dieß mir so schmerzlich theure Berlin, dem ungeachtet hundertfältigen Verkennens von Seiten solcher, die wol am wenigsten mich verkennen sollten, nie mein deutsches Herzblut sich abwenden wird – sich dann und wann einmal gewaltig aufbäumet. Will Einer Frieden, wo es unter dem Panier der Wahrheit geschehen kann, so bin ich es; aber mein ins tiefste Leben eingegrabenes Motto: „Die Wahrheit, die Wahrheit, und wär sie Verbrechen!“5 – wird auch nicht verlöschen, und müßte ich darüber zu Grunde gehn –  – was die Leute so nennen. –

Ueber Pache wird mir nun wol schwerlich Klarheit werden, es sey denn, daß er sich selber einmal schreibend herbeiließe, was ich nirgend mit vollem Recht erwarten darf. A’s6 Schreiben nach Arolsen hilft zu gar nichts; dort trägt man sich nur mit ungegründeten Vermuthungen. Ihnen, lieber Hegel, dank‘ ich für Ihre desfalsigen Bemühungen; es freut mich, daß Sie bei dieser Gelegenheit den wackeren zu kennen geben.

Ich wünsche Ihnen Glück, daß Sie sich nunmehr Ihren 7 Studien zugewendet und im Voraus der Resultate. Von Ihrer Beschäftigung mit einer von schaft befreiten Ausgabe der Philosophiegeschichte hatte ich bereits Kunde durch einen Reisenden und habe sogleich einem deutschen Buchhändler in Triest Auftrag gegeben, mir ein Exemplar8 zukommen zu lassen, sobald sie im Buchhandel zu haben. Durch denselben Favarger kann auch an Duncker & Humblot auf die angemessenste Weise den kleinen Posten der nachträglich an mich nach München gesandten (es ward mir von dort gemeldet) Lieferung „Hegels Werke“9 lassen, sobald sie die dort senden wollen. Sie haben wohl die Güte, solches den Herren zu sagen und dabei den jungen Duncker, falls es der ist, welcher 1sten Januar 1835 mir den schmerzlich theilnehmenden Morgenbesuch gemacht10, aufrichtig von mir zu grüßen. – Doch möchte gern von meinen Wanderungen alles Pecuniäre in Deutschland brachliegen, und habe gegenwärtig den Anfang gemacht mit dem – freilich Hauptschuldenposten, an Veit & Company.

Aber meine Wanderungen stehen noch in weitem Felde.11 Vielleicht, daß ich einmal vorläufigen Besuch vor die Stadt der Medicäer mache – nicht unwahrscheinlich, daß selbst im nächsten Herbst, aber nicht länger wie vergangenes Jahr in Dalmazien, und dann wieder nach Venedig zurück; denn es wäre Tollheit und Leichtsinn, bei den immer mehr sich ausbreitenden und vertiefenden Studien und Productionen den überreichen , in dem ich gegenwärtig mich so heimisch fühle, vor genügender zu verlassen. Ein kleines Intermezzo meiner Thätigkeit „Dalmazien und Montenegro“, das auf einen Einzelaufsatz für das Morgenblatt angelegt12, sich unter der Hand weitend annoncidirt, wird Ihnen als Selbständiges vielleicht noch im Laufe dieses Jahres zu Gesichte kommen. Es ist viel Historisches darin aufgearbeitet, meinen inneren Menschen, meine Gesamtkraftübung, und somit künftigen Arbeiten zu entschiedenem . Ich wünsche mir zu dessen öffentlicher Beurtheilung tüchtige Historiker, nicht Belletristen; können Sie veranlassen, daß bei seinem Erscheinen das Büchlein in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik oder in den  Jahrbüchern oder in der literarischen Zeitung von den besprochen werde, etwa von Leopold Ranke, oder von Carl Hegel, oder sonst einem, den ich schätze und von dem ich deshalb auch freimüthigen Tadel gerne und dankend hinnehme, so erweisen Sie mir dadurch einen Freundschaftsdienst.

Denen, die sich meiner in aufrichtiger Theilnahme erinnern, meinen Seelengruß. Vor Allem Ihrer trefflichen Mutter möchte Sie sich ihrer in freudiger Gesundheit recht lange erfreuen! – Auch dem wackern Böckh, an dessen Gesinnung ich zwar immer gezweifelt, die aber neuerdings durch Sie bestätigt zu hören in mir Erwiederung findet, bringen Sie besondere Grüße. Beschwören Sie ihn in meinem Namen, etwas Ernstliches für seinen Zustand zu thun, so lange es noch Zeit ist. Nichts ist unheilbarer als der Tod. Der tiefsten Hypochondrie ist beizukommen, wenn nur der Wille da ist, ihr beikommen zu wollen. Es ist gar nicht zu , wieviel bei solchen Zuständen krankester in Mitleidenschaft Gezogenes der Psyche der Körper verschuldet; ein gelöstes Band, ein nicht mehr vorgeschobener Riegel, ein geordneterer Zufluß zur Leber, Milz, Galle, und all den dämonischen Eingeweiden der dunkeln Hexenküche, aus der sich Dünste aufwälzen zum Kapitol – und Alles ist anders, neu geboren. Es ist nun einmal so mit unserer räthselhaften Doppelnatur; und da wir die Grundbedingungen in ihrer Construction nicht ändern können, so müssen wir um so eiferiger Alles anwenden, den durch sie gefangen gehaltenen Kräften unterstützend, rettend zu Hülfe zu kommen. Experto crede, Gustave13! – Ich beschwöre Dich, wenn Du es irgend über Dich bringen kannst, diesen Sommer auf einige Monate nach Gräfenberg zu gehen und Dich dort dem und seiner Kurmethode ganz und gar hinzugeben. Wenn Dir dort nicht irgendwie geholfen wird, so weit dem Körper kann irgendwie geholfen werden, so schilt mich einen frevelhaften Träumer, einen selbsttäuschungssüchtigen Lügner. Aber säume nicht! Die gute Jahreszeit rückt heran, benutze sie, und geh‘ nach Gräfenberg! – Ich selber werde, sollte wider Erwarten sich wiederholen, keinen andern Ort erwählen, und keinen mit größerer Zuversicht. Gustav, wenn Du nicht ganz und gar in Gleichgültigkeit über das wahre Wohl versunken bist, geh hin nach Gräfenberg! – Erst nach der Kur durchwandere das frischkräftige Riesengebirge, ein erneuerter frischkräftiger Mensch; dann auch besuche Breslau, grüße mir dort den alten wackren Regis14 (Heiligengeiststr. 19), und fühle Dich freudig in Deinem Erneuern. Ich rechne fest darauf! Du gehst im Mai nach Gräfenberg, und durchwanderst im September das Gebirge, Rübezahl und seinen Gnomen froh begegnend; dann schreibst Du mir zu Weihnachten von Berlin aus: „Das Leben ist doch schön, ist trotz Stürmen und Untiefen und Felsenriffen doch ein wunderbares Meer göttlicher Gnade“ – Gustav, geh nach Gräfenberg!

Ihrem Gruß an die , die übrigens neben ihrer Hübschheit ein gar kluges anmuthiges Kind ist, habe ich pünktlich ausgerichtet, und es hat mir freundliche Gegengrüße aufgetragen. Hab übrigens bei der Gelegenheit eine Wette verloren und solche mit einem blauen bezahlt. Ich sagte nämlich anfangs nicht, von wem der Gruß sey, den ich bringe; er komme aus Deutschland sagt‘ ich nur, und ich mache mich anheischig mich als einer Wette verlustig zu betrachten, falls sie binnen dreien Tagen auf die erste Nominirung den rechten errathe; aber nicht drei Minuten währte es, so mußte ich hören: „Gustavo saluto vien dal suo amico biondo, che mi ha fatto regalo del bel fazzoletto rosso“15. – Ich bringe manche angenehmen Erholungsstunde bei diesen guten Menschen im Palazzo Ducale zu, und man neckt mich vielfach, daß ich dort nicht allein die alten Chroniken der Marcusbibliothek, sondern auch die Gegenwart eifrig studire. Auch macht die „gebildete Gesellschaft“ mir bittere Vorwürfe, daß ich für solchen Umgang Zeit habe, während ich doch Zeitmangel vorschütze gegen sonstige Einladungen. Gebildete Gesellschaft, hilf Himmel! was bist du gegen Naivität und Wahrheit? – Es mehr ursprünglicher unverkünstelter Verstand, mehr echte Herzlichkeit bei diesen einfach unverschrobenen Naturen, als in all den hochgespreizten von selbstüberschätzender Werthlosigkeit vollgepfropften Assembléen. Zu eigener Freude und Erquickung, und stets des rechten Anklangs gewiß, les‘ ich dort manchen Abend ein Goldonisches oder sonst etwas Passendes vor, und während man einander harmlos gut ist, denkt kein Mensch an rathsstifterei, oder sonst an etwa anders, als daß Mensch dem Menschen gegenseitig harmlos kann ohne alles Weitere. Hierin aber ist der Süden im Durchschnitt weiter und wahrer. –

Doch ich verliere mich weit über die Grenzen eines kurzen Dankgrußes ursprünglich mir vorgestellt. So geht es, wenn man einmal sich zu äußern anfängt, des Verständnisses gewiß. Grüßen Sie mir auch Don Manuel, wenn Sie nach Ahrensberg schreiben. Auf Einlage fügen Sie wohl die Adresse hinzu, bevor Sie solche zur Stadtpost geben. Ich muß ihm doch einmal wieder schreiben, aus Herzensgrunde, selbst auf die Gefahr hin, daß er nicht mehr derselbe. Ich habe nun einmal die Manie, unwandelbar an dem ursprünglich erkannten Funken festzuhalten, das Leben auch noch so Asche drüberherwälzt. Wir aber wollen uns nicht einäschern lassen!

Gott befohlen, lieber Hegel!
In unveränderlicher Zuneigung
Ihr Heinrich Stieglitz16

angehefteter kleiner Zettel mit Anschrift

Herrn Dr. Carl Hegel
Wohlgeborn
d. g. B.  Berlin.

Rückseite mit Bemerkung

Entweder Sie haben meinen Novemberbrief17 nicht erhalten, oder ich begreife Sie nicht, lieber Hegel. Unveränderlich zugethan
Stieglitz

22 Februar 1840  Venedig – Riva dei Schiavoni – Caffé Gamba18