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Heinrich Wilhelm Stieglitz an Karl Hegel, Venedig, 11. November 1839

Die erquicklichen Tage unseres jüngsten Beisammenseyns im Wiederschein der ewig unvergänglichen irdisch untergegangener Welten in treuer Erinnerung bewahrend, benutze ich eine günstige Gelegenheit zum Festhalten eines jener beflügelten Grüße, die mein Herz nicht müde wird in die Ferne zu senden. Sie seh‘ ich jetzt daheim sitzen, gepflegt von sorgsamer Mutterliebe, verarbeitend die auf Ihrem Südzuge2 gesammelten Schätze, und somit den Genuß einer heitern Gegenwart mit Vorbereiten und Feststellen einer tüchtigen Zukunft vereinigend. Möchte‘ Alles Ihnen gelingen, wie Wunsch und Eifer es nur irgend ausmalen und zu fördern suchen! – So sehr ich Ihnen und allen Wackeren einen heimischen Frieden wünsche, hoff‘ ich dennoch, daß wir auf unsern Zügen einander noch wieder begegnen; Ihr Drang nach Ausbeuten so manches hinter sich Gelassenen 3 mir dafür; mich aber wird es auch nach zeitlicher Rückkehr in das so theure Vaterland immer wieder einmal südwärts ziehn – Der Dämon, der mich treibt, scheint südlicher Natur, wie sehr auch meine tiefsten Seelenfasern in Deutschem Boden wurzeln – Vielleicht beruht auf diesem Conflict all mein Wohl und Wehe, wie denn unser Lebens sich überhaupt aus scheint, deren letzte Ausgangspunkte in Abgründen sich verbergen, denen unser Blick nicht so leicht beizukommen vermag. Wohl denen, welchen nur gute Geister kund werden als Lenker des Weberschiffchens! –

Ich habe eine Bitte an Sie, lieber Hegel, deren Erfüllung Sie mir gewiß nicht abschlagen. Lange ohne directe Kunde von einem Menschen, an dessen Schicksal ich den stärksten Antheil nehme, weiß ich mir über denselben nicht besser Klarheit zu verschaffen als unmittelbar in Berlin. Ich hatte fest geglaubt – und seinen lezten Nachrichten zufolge war es so – Dr. Pache würde nach glücklich zurückgelegtem Staatsexamen ein Physioast4 in Brilon antreten und dort in einem segensreichen Wirken seine Kräfte . Alle Mittel dazu hätte er in Händen; an Fleiß und Eifer hat es ihm nie gefehlt; auch außer seiner Wissenschaft war er reich begabt mit schönen Kenntnissen und hatte einen verschloßenen Sinn für alles Menschliche bei unablösbarem Hinüberranken zu dem Höheren, das ohne Schwärmerei all seinem Thun und Wollen eine tiefere Bedeutung gab. So habe ich ihn früh erkannt und, trotz einer für das Leben etwas unbeholfenen Außenseite, die seinen bessern Theil dem nur ohnehin Betrachtenden bald verborgen, bald auch entstellte, ihn niemals anders gefunden. Nun erwiedert man aus der Heimath auf meine lezten Erkundigungen seinetwegen: „Von P kann ich Dir wenig Erfreuliches sagen; er sitzt in C und versauert im eigensten Sinn des Wortes; hier behauptet man, er habe sein großes Examen noch gar nicht gemacht; hieher kommt er durchaus nicht.“ – Mit dieser Behauptung, so und ungern ich ihr Glauben beimesse, stimmt nun freilich sein ohnedieß unbegreifliches Schweigen merkwürdig überein; er weiß nur zu gut, wie sehr sein Wohl und Wehe mir am Herzen liegt, und hat mich zu lieb, um mir Unersprießliches zu melden – auch ist es, wenn die Sage recht hat, auch wohl eine gewisse Scheu, die dann auch wol seinem nicht nach Arolsen Kommen zu Grunde liegt. Wie dem nun sey, ich muß Gewißheit haben, sey es auch die unerquicklichste. Es wäre nicht das erste Mal, daß mein Bemühn um Freunde gescheitert; ich scheine in dieser Hinsicht wenig Glück zu haben. Vielleicht setz‘ ich zu großes Vertrauen auf das waltende Element solcher Naturen, die von dem gewöhnlichen Gange des bürgerlichen Lebens sich emancipieren – allerdings ein schwer zu lösendes Problem und für den größten Theil gefährlich, schon um des Widerstrebens vieler festgewurzelter Ansichten und Gewohnheiten willen; es gehört eine ungewöhnliche Kraft dazu – und Glück – sich auf dieser Bahn zu halten und durchzuführen. – Ueber den fraglichen Punkt das Nähere zu ermitteln, dürften Sie zunächst an Dr. Ascherson, den Arzt, und Dr. juris Hermann Jacobson sich wenden. Beiden, so wie ihrer Familie, würd‘ ich Sie bitten mich freundlichst zu empfehlen, und in Ihrer Antwort fest im Auge zu behalten: „Die Wahrheit, die Wahrheit und wär sie Verbrechen!“5

„Was schlimmes Motto!“ – werden Sie sagen, im Andenken an den im eigentlichen Sinn von ihm durchfurchten Zukunftstraume. Und allerdings fühl‘ ich mich gestimmt, in dieser Hinsicht Ihnen leise beizupflichten! Wie ihr Herz, an dem ich trotz allem Zwischenliegenden, in Erinnerung einer gemeinsam durchlebten schönern Zeit, fortwährend den innigsten und unerschütterlichsten Antheil nehme, hab‘ ich durch ein in jenem Sinne nach außenhin herber als ich wollte erscheinendes Wort, von mir abgewendet! – Aber der einmal abgeschoßene Pfeil ist in seinen Wirkungen nicht mehr zurückzuholen. Und so muß man auch hier die Zeit gewähren lassen, die vielleicht dem raschen Schützen früher oder später Gelegenheit vergönnt, manche der tiefer als er beabsichtigte gedrungenen Wunden mildernden Balsam einzuflößen. – Grüßen Sie mir die von meinen alten Freunden, welche noch an meine Liebe glauben, auch wo ich einem herzlichen vielleicht etwas zu rücksichtslos Luft gemacht. – Ihrer verehrten Mutter meinen aufrichtigsten Herzensgruß im Angedenken an die Unvergeßliche, welche gemeinsam mit mir sie so hoch schätzte. waltende Vorsicht, diese Charlotte! –

Ich bat Sie, nach dem Grabe6 sich umzusehen. – Sie werden das nicht vergessen haben. Besorgt Dr. Jacobson noch die benöthigten Auslagen bei dem Todtengräber ? Er weiß, ich bin zu jeder Stunde bereit, in und außerhalb Deutschlands, vor und nach meinem Dahinscheiden, all dergleichen pünktlichst zu erstatten. Wie denn überhaupt nichts von mir zu seiner Zeit unausgeglichen bleiben soll. Niemand schreibt mir aus Berlin seit so langer Zeit – geben Sie mir einige Kunde! – Auch was Sie betrifft – Sie dürfen meines ebenfalls gewiß seyn, und zweifeln nicht daran. –

Von mir läßt sich wenig sagen. Von einem etwas längern Ausfluge nach Istrien und Dalmazien eben jetzt zurückgekehrt, versuch‘ ich in dem Frieden der Lagunenstadt von Neuem mich zu sammeln, aufnehmend und ausharrend, was als Lebensboden mir angewiesen und zugetheilt. Wie das Einzelleben sich zu dem großen Ganzen verhält, wird uns gewiß künftig einmal klarer werden. Wär‘ ich ein Mensch, der nicht an dem Genusse des flüchtigen Augenblicks hinge, ich könnte mich in so manchen begünstigenden Elementen der Art wohl befinden – was die Menschen so gewöhnlich dafür halten. Aber ich genüge mir nun einmal nur in Einem – hier meine Schranke und meine Kraft – und so mögen günstige Sterne walten über das noch Gebliebene! – Von Herzen zugesendet

Dein Stieglitz

P. S.7 Vergessen Sie ja nicht meinen Gruß beizugestellen, wenn Sie an Manuel schreiben, und daß er bei etwaigem Durchzuge mein Arolsen8 und die schwesterliche Pfarrei Berndorf nicht

Meine Adresse in Venedig, wo ich wahrscheinlich noch bis zum März 1840 verweile: Priva dei Schiavoni – Caffé Gamba.9