Ihre willkommene Zuschrift vom 15. vorigen Monats ist mir hier zugegangen1, wo ich wie gewöhnlich bei meinem alten blinden Freunde, der in seinem Geschichtswerke ein merkwürdiges Zeugniß geistiger Frische abgelegt hat, den Frühling verbringe. Ich brauche nicht hinzuzufügen, daß ich über die Dino Compagnifrage viel vernommen habe und vernehme – nicht von meinem Gastfreunde, der dieselbe abgethan, in der that auch nicht ernstlich studirt hat, so daß man besser gethan hätte, von seinem Urtheil das doch nur auf allgemeine Anschauungen und Eindrücke nicht auf Kritik der Thatsache beruht, nicht so viel Aufhebens zu machen, wohl aber von Fanfani, DelLungo, Quarti2. Ersterer | träumt nur von Dino, und treibt die Polemik nun zum Ueberdruß. Er weiß von Geschichte wenig, während er in grammatikalischen Dingen scharfsinnig ist; gerade in letzter Beziehung aber gehen die Gegner ihm jetzt sehr scharf zu Leibe. DelLungo druckt an seiner ganz umgearbeiteten neuen Auflage, aber sehr langsam, und es ist mir nicht gelungen von ihm zu erfahren, wie er seine verheißenen Demonstrationen, zB. inbetreff Ludwigs ex Savoyen, unterstützen denkt. Meine Zweifel sind immerfort stark – manche Stellen lassen sich wol nicht retten. Den MagliabechischenCodex habe ich mir genau angesehen und hege nicht den geringsten Zweifel an dessen Datum, wodurch SchefferBoichorsts Vermuthung, an sich schon höchst abenteuerlich, ganz wegfällt. Fanfanis Meinung, man habe mit diesem verschiedene Quattrocentosachen zugleich mit der Chronik enthaltenden, von derselben Hand geschriebenen Codex darin Stradino einen Possen spielen wollen, ist aber | nicht minder abenteuerlich. In der Note von Stradino’s Hand steht deutlich Noferi (i. e. Duofrio) Buscini. Ueber Stradino weiß man sehr wenig, und ich habe auch von DelLungo nichts von Belang in Erfahrung bringen können. Kurz vor meiner Abreise von Bonn hatte ich, mit der Literärgeschichte der Zeit Cosimo’s I. mich beschäftigend, Nachrichten über ihn gefunden und notiert, habe ich hier jedoch ungeachtet allen Kopfbrechens und Nachsuchens, mich nicht zu entsinnen vermacht, wo? nachweislich bei Mellini über Cosimo (Herausgeber, von Mouni), auch bei Scezziner Studio fiorentino, noch im Osservatore des Castri, die Alle des Stradino nur kurz gedenken. In gedachten Nachrichten stand daß der Stradino in seiner Jugend im republikanischen Kriegsdienst gewesen, später ungestört in Florenz gelebt und einen Kreis jüngerer Leute um sich versammelt habe, ein heiterer Genosse und unermüdlicher Erzähler. Cronaca haben auch andere geheißen, die genau von Erlebtem | und Vernommenem berichteten, so Simone del Pollaiolo der berühmte Erbauer des Palazzo Strozzi. Den Beinamen Cronicania zum Buch des Dino in Wechselbeziehung bringen zu wollen, dünkt mich absurd.
Mit Ihren Bemerkungen über die Stellung mancher Italiener zur ganzen Frage stimme ich überein. Studirt haben die Wenigsten dieselbe, während die meisten dem Fanfani Beipflichtenden unbekannte Leute sind. Del Lungo’s Langsamkeit (er ist freilich vielbeschäftigt) macht jedoch daß die Ansicht von der Unächtheit Raum gewinnt. Etwas Antitrusce-Gesinnung bei Nicht-Toskanern trägt auch dazu bei.
Und nun leben Sie wohl. Kann ich Ihnen irgendwie dienen, so verfügen Sie über mich; bis zur zweiten Hälfte Juni bleibe ich wahrscheinlich hier.
Reumont, AlfredAlfred Reumont11645093218081887Reumont, Alfred (1808–1887), war ein in Aachen geborener Staatsmann, Publizist, preußischer Diplomat in Italien sowie Historiker, der sich viel mit italienischer Geschichte, Geschichtsschreibung und Literatur befasste; er gehörte zu den einflussreichen Personen der Florentiner Gelehrtenwelt um Gino Capponi (1792–1876), in welcher auch Karl Hegel (1813–1901) während der Zeit seiner Studienreise durch Italien (1818/39) verkehrte. Seit den 1840er Jahren war er Redakteur der Augsburger Allgemeinen Zeitung, für die er im Laufe seines Lebens über 1.000 Artikel, darunter auch viele aus dem Bereich der italienischen Geschichtswissenschaft bzw. Kultur verfasste.
Hegel, KarlKarl Hegel
HiKo
11657075X
Florenz43.7698712,11.2555757Hauptstadt im Zentrum des Großherzogtums Toskana im Norden der Apenninen-Halbinsel circa 300 Kilometer nördlich von Rom gelegen.
Compagni, Dino1189110901246/471324Compagni, Dino (1246/47–1324), in Florenz geborener Tuchhändler, Politiker und Chronist. Über die Echtheit seiner Chronik der Stadt Florenz stritten sich in der deutschen Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert Paul Scheffer-Boichorst (1843–1902), der die Fälschungsthese vertrat, und Karl Hegel (1813–1901), der die Echtheit der Chronik bewiesen hat.
Dino CompagniDino Compagni118911090um 1246/12471324Dino Compagni (um 1246/47–1324), der in Florenz geboren wurde und dort auch verstarb, war Chronist, Kaufmann und Politiker; um die Echtheit seiner Chronik entbrannte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein fachwissenschaftlicher Streit, an welchem auch Karl Hegel (1813–1901) federführend beteiligt war und mit seiner Ansicht bezüglich der Echtheit dieser Chronik Recht behalten sollte.
Fanfani, PietroPietro Fanfani11640768918151879Fanfani, Pietro (1815–1879), war ein italienischer Philologe und Schriftsteller.
DelLungo, Isidoro11606442018411927DelLungo, Isidoro (1841–1927), war ein italienischer Historiker und Philologe, der die Echtheit der Chronik des Dino Compagni belegen konnte und damit auch den Standpunkt Karl Hegels (1813–1901) innerhalb der Dino-Frage bzw. des Dino-Streits bestätigte.
StradinoStradino, siehe: Mazzuoli, Giovanni.
Cosimo I. de' Medici11863852115191574Cosimo I. de’ Medici (1519–1574), aus der Medici-Familie stammend, war von 1537 an Herzog von Florenz und seit 1569 Großherzog der Toskana.
CronacaCronaca, siehe: Simone del Pollaiolo.
Simone del Pollaiuolo („Cronaca“)12216699X14571508Simone del Pollaiuolo (1457–1508), war ein florentinischer Architekt und Verfasser einer Chronik, weswegen er auch als „Cronaca“ bezeichnet wurde.
SavoyenSüdlich des Genfer Sees gelegene Alpenlandschaft mit dem Mont Blanc als höchstem Berg.
BonnAuf eine römische Gründung zurückgehende alte kurfürstliche Residenzstadt am Rhein mit menschlichen Besiedlungsspuren, die ca. 14.000 Jahre zurückreichen, nach französischer Herrschaft ab 1815 eine Stadt des Königreiches Preußen, etwa 30 Kilometer nördöstllich von Köln gelegen.
Professor, ProfeßorBerufs- oder Amtsbezeichnung und Anrede für den Inhaber einer Professur an einer Universität oder Hochschule, wobei nicht jeder Professor eine Professur bekleidet; früher auch Bezeichnung für einen Gymnasiallehrer (Gymnasial-Professor) bzw. Lehrer an einer Lateinschule.
DinofrageVornehmlich in den 1870er Jahren in Deutschland und Italien aufgeworfene Frage nach der Echtheit der Chronik des Florentiner Kaufmanns, Politikers und Chronisten Dino Compagni (um 1246/47-1324), an der auch Karl Hegel (1813-1901) federführend beteiligt war, der für deren Echtheit plädierte. Vgl. dazu auch als Synonym: Dinostreit.
PolemikZumeist unsachliche, scharfe und oft durch persönliche Angriffe sowohl gekennzeichnete als auch geführte Auseinandersetzung im wissenschaftlichen, kulturellen, politischen, religiösen, literarischen, künstlerischen et al. Bereich; überdies bezogen auf eine Schrift Aloys Schultes (1857-1941), der 1882 in Straßburg eine Schrift herausgab über: „Closener und Königshofen. Beiträge zur Geschichte ihres Lebens und der Entstehung ihrer Chroniken“ in dem Periodikum „Strassburger Studien – Zeitschrift für Geschichte, Sprache und Litteratur des Elsasses“, S. 277–299, in welcher er kritisch auch Bezug nahm auf Karl Hegels (1813-1901) Edition der Chroniken von Straßburg erschienen 1870/71 in zwei Bänden im Rahmen seines Editionsprojektes der „Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert“ im Auftrag der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München.
GeschichteGeschichtswissenschaft als Universitätsdisziplin sowie als gymnasiales Unterrichtsfach; auch: historische bzw. gesellschaftswissenschaftliche Abhandlung, Darstellung, Monographie über einen speziellen konkreten oder abstrakten Forschungsgegenstand wie z. B. die Geschichte einer Stadt, Geschichte einer wissenschaftlichen Disziplin etc.
Magliabec(c)hianaDie „Biblioteca Magliabechiana“, die auf den Gelehrten und Bibliothekar Antonio Magliabechi (1633–1714) zurückgeht, der eine Sammlung von 25.000 Bänden von literarischen, historischen, religiösen und naturwissenschaftlichen Schriften im Jahr 1714 der Stadt Florenz testamentarisch vermacht hatte und die unter seinem Namen als Bibliothek der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde; sie wurde in ihrer weiteren Entwicklung zur „Biblioteca Nationale Centrale“; vgl. hierzu hier auch: Bibliothek (Florenz).
Codex, CodicesKodex, aus dem Lateinischen stammend, Plural Codices, in Bezug auf das Mittelalter bezogen auf eine Sammlung von Handschrift(en), welche zwischen Holzdeckeln zu einer Art Buch zusammengefügt sind; im übertragenen Sinne auch Bezeichnung für eine Sammlung geschriebener oder auch ungeschriebener Verhaltensregeln innerhalb einer Gesellschaft, Menschengruppe, eines Standes etc.
Dino-Chronik, Chronik des Dino Compagni, Dino-HandschriftDer Florentiner Kaufmann, Politiker und Chronist Dino Compagni (um 1246/47-1324) verfasste zwischen 1310 und 1312/1313 eine Chronik der Stadt Florenz in drei Büchern („Cronica delle cose occorrenti ne’ tempi suoi“), in der die Kämpfe zwischen weißen und schwarzen Guelfen eine zentrale Rolle spielen. Dino beschränkte sich auf den Zeitraum zwischen den 1280er Jahren bis 1312. Literarisch ist das Werk ansprechend geschrieben und liefert überdies wertvolle Informationen für die entsprechende Phase der florentinischen Geschichte. In der italienischen, aber auch in der deutschen Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts wurde der sogenannte „Dinostreit“ bzw. die sogenannte „Dinofrage“ um die Echtheit dieser Chronik geführt bzw. gestellt. So vertrat Paul Scheffer-Boichorst (1843-1902) die Fälschungsthese, wohingegen der Erlanger Historiker und sehr gute Kenner der italienischen Stadtverfassungsgeschichte Karl Hegel (1813-1901) für ihre Echtheit plädierte. Die Echtheit der Schrift wurde in der Folgezeit vornehmlich durch die Forschungen von Isidoro Del Lungo (1841-1927) bestätigt.
Note, NotenHier im Sinne von: Fußnote(n) bzw. Fußnotentext(en) und Anmerkung(en) in Form eines wissenschaftlichen Anmerkungsapparats; auch Abitur-Prüfungsnote(n) bzw. Zensuren im Allgemeinen.