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Karl Hegel an Victorie Gervinus, geb. Schelver, Erlangen, 16. Januar 1875

Meine liebe unveränderte Freundin!

Ihr lieber inniger Brief1 hat, wie selten einer, meine Seele im Innersten erregt und mich tief gerührt. Ja, Sie sind noch ganz die liebe Victorie, die Freundin meiner Jugend. Welche schönen Zeiten und Bilder unseres Zusammenseins rufen Sie in meiner Erinnerung zurück, durch die zwei Bildnisse die Sie mir freundlich geschickt. Ich erkenne darin jeden Zug von Ihm und Ihnen; ich lese darin die mir einst wohl bekannten und vertrauten Empfindungen und Gedanken, und ich begreife das tiefe Gefühl der Vereinsamung, welches die dauernde Trennung von dem Geliebten Ihres Herzens immer aufs neue in Ihrer Seele erweckt, da ich selbst Sie beide mir nur als ungetrennt denken kann. Sie suchen, wie Sie mir sagen, sich die fortdauernde Geistesgemeinschaft zu erhalten, indem Sie sich von der Welt auf sich selbst zurückziehen, unter der Beschäftigung mit Seinen hinterlassenen Werken und mit Seinem vergangenen Leben, welches zugleich das Ihrige einschließt, und Sie finden darin die einzige Befriedigung Ihres Daseins. Sie selbst gestehen sich wohl, daß Sie noch auf andere Weise in Liebe für Andere wirken und ihnen viel sein könnten; aber es ist dies Ihrer innerlichen und sinnenden Natur nicht gegeben, und obwohl eine gewisse Gefahr für Sie selbst darin liegt, wer möchte darüber mit Ihnen rechten, und Ihnen das vermeinte Bessere aufdrängen, das Sie selbst nicht als das Bessere erkennen!

Ich beklage mit Ihnen, daß wir uns seit Jahren nicht wiedergesehen, uns nicht gegeneinander aussprechen konnten, daß Sie, außer meiner Frau, meine Familie nicht kennen gelernt haben. So konnten Sie nur von fern an unserem Leide, wie jetzt an unserer Freude, Theil nehmen. Im vergangenen Frühjahr verloren wir ein geliebtes Kind, einen hoffnungsvollen fröhlichen Knaben von 6 Jahren, der die größte Freude in unserem Hause und ein heller Lichtblick in dem Leben seiner Eltern war. Mit ihm verschwand die Poësie des Kinderlebens aus unserem Hause.2 Bald darauf schenkte uns unsere seit 2 Jahren mit meinem Collegen Lommel, Professor der Physik, glücklich verheiratete zweite Tochter, Luise, das erste Enkelchen, welches den Namen unseres verstorbenen Sohnes, Gottlieb, erhielt, gleichsam um uns für diesen einen Ersatz zu gewähren.3 Die jetzt erfolgte unverhoffte Verlobung meiner ältesten Tochter Anna, im Alter von 23 Jahren, mit einem anderen von mir wie von Allen hochgeschätzten jungen Collegen, dem Mathematiker Felix Klein, ist uns als ein anderes reines Glück wie durch himmlische Güte zugetheilt worden. Ich habe für diese Tochter immer eine besondere väterliche Vorliebe gehabt, weil sie durch ihre reiche Begabung und lebhafte Empfänglichkeit für alles Gute und Schöne, durch die Vortrefflichkeit ihres Charakters, die Frische und Anmuth ihres Wesens auch meine aufs neue erfreut hat, während zugleich meine Sorge um ihr Gehörleiden, welches ihr seit einem Nervenfieber geblieben ist, meine Zärtlichkeit für sie erhöhte. Schmerzlich werde ich sie jeden Tag vermissen, wenn sie aus unserem Hause scheidet, aber doch mit großer Herzensfreudigkeit gebe ich sie dem jungen trefflichen und hochbegabten Mann, der ihren Werth erkannt hat und ihrer Liebe werth ist. Klein ist nicht nur der geniale Mathematiker, der im Alter von 23 Jahren aus Göttingen hierher als ordentlicher Professor berufen wurde und jetzt, nachdem er uns nur 2 Jahre angehörte, auf den ersten mathematischen Lehrstuhl im Münchener Polytechnicum berufen ist; er ist auch ein prächtiger, frischer und liebenswürdiger, edler Mensch, der wie seine begeisterten Schüler, so alle Welt hier in kurzer Zeit für sich gewonnen hat.

Halten Sie mir, liebe Victorie meine väterliche Freude, wie mein väterliches Lob zu gute: Warum sollte ich gegen meine theure Freundin, die so herzlichen Antheil an mir nimmt, damit zurückhalten?

Von mir selbst und meiner guten Frau kann ich mit Dank gegen Gott sagen, daß wir beide noch rüstig und gesund sein. Mir fehlt selten etwas, wenn ich nur mit der Arbeit das richtige Maß einhalte, welches mir meine nicht sehr starken Nerven vorschreiben, in dem sie sich durch gestörten Schlaf rächen, wenn ich es überschreite oder mich nicht in der frischen Luft genügend erhole. Darum bin ich ein regelmäßiger Spaziergänger. Ich bin beschäftigt durch Vorlesungen und mein historisches Seminar, durch meine Arbeiten für die Chroniken der deutschen Städte, die ich herausgebe und deren Sammlung auf 11 Bände im Druck herangewachsen ist. Jetzt kommt Cöln an die Reihe.4 Auch auf Italienisches komme ich mit Vorliebe gelegentlich zurück und schreibe gegenwärtig eine kritische Abhandlung über den Geschichtsschreiber Dino Compagni, über welchen auch Gervinus in der florentinischen Historiographie gehandelt hat, dessen Echtheit5 nunmehr mit Grund starkt bezweifelt wird.

Wenn Sie mich sähen, Sie würden sich wundern, wie sehr ich gealtert bin; meine Haare sind stark grau und eher schon weiß zu nennen. Ich lasse neue Abzüge von meiner Photographie6 machen, um Ihnen einen zu schicken, damit Sie nicht erschrecken, wenn Sie mich wiedersehen. Ihr Bild ist noch das unverkennbare alte liebe Gesicht, nur recht ernst sind die Züge geworden, wie ich sie sonst nicht gekannt habe.

Meine Briefe von Gervinus sollen Sie auch in einigen Tagen haben; ich brauche Zeit dazu, um sie aus vielen aufgehobenen Briefpaketen herauszusuchen; ich hoffe sie aber noch alle vorzufinden.

Sie fragen mich, ob ich die neue Auflage der deutschen Dichtung erhalten habe? Ich hätte Ihnen längst dafür danken sollen. Die beiden ersten Bände der 5. Auflage sind mir zugekommen.

Herzlichen Dank für Ihren lieben Brief, der mir seit langer Zeit wieder unmittelbar von Ihnen selbst über Ihr Leben und Denken Nachricht gegeben. Ich habe mich bei Anderen nach Ihnen erkundigt und mit Freude gehört, daß Ihr Augenleiden gehoben ist; doch schreiben Sie mir, daß Sie auch sonst leidend sind. Möchten Sie sich nur bei der Arbeit schonen, welche für eine Frau doppelt anstrengend ist. Viel Spazierengehen ist mein Universalmittel, welches ich auch Ihnen empfehle.

Meine Frau grüßt Sie mit inniger Theilnahme. Das glückliche Brautpaar ist so eben vom Hause fortgefahren zu einer großen jugendlichen Abendgesellschaft. Die Beglückwünschungen von allen Seiten nehmen kein Ende und die Einladungen drängen sich.

In alter unverbrüchlicher Freundschaft
der Ihrige
Carl Hegel.