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Karl Hegel an Victoria Gervinus, geb. Schelver, Erlangen, 23. März 1871

Theure Freundin!

Welche Nachricht! Ihr Gervinus, mein alter geliebter Freud, ist nicht mehr unter den Lebenden! Wie ein Blitzschlag, unerwartet und betäubend, hat sie mich getroffen. Man rechnet viel zu sicher auf den Fortbestand der theuersten Besitzthümer unseres Lebens, bis man plötzlich erfährt, wie hinfällig sie sind; doch sind sie nicht vergänglich, wenn sie ein Theil unseres eigenen Wesens geworden sind. Sie, liebe Freundin, waren ohne Zweifel schon länger vorbereitet auf den schmerzlichen Verlust des Geliebten, dem Sie seit 34 Jahren als treue Gattin zur Seite gestanden, aber das ändert und mildert nicht die Empfindung der furchtbaren Lücke Ihres Daseins, welche sich Ihnen in jedem Moment aufdrängt, nachdem die quälende Sorge um die Erhaltung des theuren Lebens aufgehört hat. Gewiß wenden sich Ihre Gedanken oft zurück auf die vergangenen Zeiten Ihres schönen und reichen Lebensglücks.

Ich wünschte, ich wäre bei Ihnen und könnte Ihnen durch Aussprechen und Mittheilung solcher Erinnerungen einige Erleichterung in dem brennenden Schmerze verschaffen! War ich doch einer der wenigen ersten Zeugen der Liebe meines Freundes zu der einzig Erwählten in den sonnigen Tagen unserer Jugend zu Heidelberg, und dann wieder einer der ersten Gäste in dem begründeten neuen Hausstande zu Göttingen, wo ich den Freund und Sie in dem frischen und vollen Genuß aller erwünschter Lebensgüter fand und eine kurze Zeit an solchem Glücke Theil nehmen durfte, welches ach! so bald wenn auch nur von außen her gestört wurde, ohne in seinem tiefsten Wesen dadurch getrübt oder verändert zu werden. Denn Sie bleiben dem Geliebten als standhaft, gleich muthige und heiter entschlossene Gefährtin auf der vorläufig ins Ungewisse abweichenden Lebensbahn.

Sie schüttelten mit ihm den Staub von den Schuhen in dem Lande der Ungerechtigkeit und entflohen in das Land der unvergänglichen Schönheit, wo ich ihn und Sie am Strande des dunkelblauen Meeres zu Neapel antraf und wo ich die schönsten Tage meines Lebens in seiner und Ihrer Nähe verbrachte. So oft wir uns später wieder sahen, kehrten unsere Gedanken immer wider zu jenen Tagen zurück, die mir auch heute, da ich dieses schreibe, lebhaft vor Augen stehen und mir so viel Freundlichkeit, Güte und Nachricht meines nun verewigten Freundes vergegenwärtigen. So geschah es auch, als ich Euch zuletzt vor zwei Jahren in Heidelberg besuchte und Sie durch langes schmerzliches Augenleiden gefesselt, vom Tageslicht abgeschlossen fand. Sie ertrugen ihr Leiden mit großer Geduld und ohne Klage: liebe Victorie, wie wird es jetzt mit Ihnen sein? Irre ich mich, wenn ich Sie mir nun ebenso standhaft, Gott ergeben und gefaßt in dem unvergleichbar schweren Unglück denke? Ich wünsche von Herzen, daß Sie so seien. Es wäre nicht im Sinne des Verewigten, in verzweiflungsvoller Trauer und Klage zu verharren. Er selbst pflegte sich einen heftigen Schmerze zuerst ungetheilt hinzugeben, wie ich ihn sah, als er, wenn ich nicht irre, seinen einzigen Neffen, einen hoffnungs-vollen Knaben1, verlor, dann aber sich wieder zur gewohnten Thätigkeit aufzuraffen. Denn das Thun stand ihm höher als das nur beschauliche Wesen. Was bleibt aber Ihnen noch übrig zu thun? Ich denke, gar viel Gutes und Schönes. Der theure Dahingeschiedene hat Ihnen einen gar reichen Schatz von Geistesworten und Werken hinterlassen, und wie Sie während seines Lebens an seinem Schaffen den nächsten Antheil genommen, so werden Sie in der Beschäftigung mit dessen edlen Früchten auch künftig mit ihm fortleben. Sie werden ferner nicht aufhören, wie Sie es in Gemeinschaft mit ihm gewohnt waren, die Seele über das Irdische emporzuschwingen auf den Fittichen der erhabensten Tonkunst, und werden glauben sich damit dem Geliebten, der nun den irdischen Leib von sich abgestreift hat, am meisten anzunähern, ja seine Nähe als beseligende Gewißheit empfinden. Sie werden ebenso wenig nachlassen in den Werken der Liebe und des Wohlthuens für Andere, in der Mittheilung unvergänglicher geistiger Güter zur Heranbildung der nachstrebenden Jüngeren Ihres Geschlechts. So denke ich mir, theure Freundin, die Sie meinem Herzen nahe stehen wie eine geliebte Schwester, Ihre Zukunft, nicht an Trost im Schmerze und an Befriedigung im Entbehren. Wenn ich nur wüßte, wie es gegenwärtig mit Ihnen steht, mit Ihrem Augenleiden und sonstigen Befinden! Vielleicht erfreuen Sie mich später einmal mit ein paar Zeilen und geben mir Nachricht. Meine Frau grüßt Sie mit inniger Theilnahme.

In alter Freundschaft und Treue
der Ihrige
Carl Hegel.