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Wilhelm Giesebrecht an Karl Hegel, München, 6. Juni 1883

Theurer Freund!

Heute habe ich schon viele Plage gehabt – am Vor- und Nachmittag Seminar – aber ich kann den Tag doch nicht ablaufen laßen, ohne Ihnen einige Zeilen zu senden, die Ihnen morgen die herzlichsten Glückwünsche von meiner Frau und mir überbringen. Ein Geburtstag ist ja immer bedeutsam, aber der, den Sie diesmal feiern, bezeichnet doch noch einen besonderen Lebensabschnitt.1 Es ist der Abend gekommen, wo man ruhen und sich dessen freuen kann, was in der Tage Arbeit und Hitze geschaffen ist. Möge Gott Ihnen einen recht frohen und schönen Lebensabend schenken! Ich habe gestern noch einen Blick auf die Lange Reihe der Städtechroniken2 werfen müßen – sie allein würde zum Erweise genügen, daß Ihr Leben ein reichgesegnetes gewesen und Sie mit Befriedigung auf die durchmeßene Laufbahn zurückblicken können. Über 20 Jahre sind wir in mannigfachen Beziehungen zu einander gewesen: möge diese Verbindung noch lange fortdauern!

Sie wißen, daß ich mich oft nach dem Ziel sehne, an welches Sie jetzt angelangt sind. Ich bin körperlich nicht gerade leidend, aber die Überlast der Arbeit bedrückt mich oft schwer. Nicht weniger, sondern mehr der Geschäfte habe ich, als ich vor 21 Jahren übernommen, und es ist mir jetzt fast unmöglich an die Arbeiten zu kommen, die mich am meisten intereßiren. Vor Allem will ich nun das Seminar abgeben, welches mir zu viel Arbeit macht. In der kritischen Abtheilung allein habe ich in diesem Semester wieder 18 Theilnehmer.

Freundschaftlichst
Ihr
Giesebrecht.